MANFRED LAUFFS

 

Rede zu Verabschiedung der Abiturientia 2011 (2.7.2011)

 

 

 

ENTGRENZUNG

 

 

 

 

 

Liebe Eltern,

 

liebe Gäste,

 

liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

 

 

 

 

Die Liebe zur Schule wächst mit dem Quadrat der Entfernung“. So heißt es in einer alten Bierzeitung unseres Gymnasiums. Aus dem Jahre 1921. Sollten Sie also jetzt schon Liebe zur Schule empfinden, so gehen Sie davon aus, dass die Liebe größer sein wird, wenn Sie in – sagen wir: einem halben Jahr, in 10 oder 25 Jahren als Ehemalige wieder hier auftauchen und von mir oder einem meiner Nachfolger oder Nachfolgerinnen durch das Gebäude geführt werden. Man kann auch die Schule schon in Klasse 5 lieben. Originalzitat eines Schülers dieser Jahrgangsstufe: „Wenn ich gewusst hätte, wie schön es am Rats ist, wäre ich schon viel eher gekommen!“ Und man kann in Klasse 6 auch Mitleid mit dem Schulleiter haben: Zitat aus einer Hausaufgabe im Fach Deutsch: „Wir sahen einen Film über Juist aus dem Jahre 1982, als Herr Lauffs noch jung und sorgenfrei war.“ Also: Sorgen haben Sie mir jedenfalls nicht bereitet. Sie haben das Abitur bestanden, das ist ein großer Erfolg, zu dem ich Ihnen im Namen aller Anwesenden herzlich gratuliere!

 

 

 

Herzlich willkommen heiße ich Herrn Bürgermeister Roland, und Herrn Weichelt, unseren Schuldezernenten, ich begrüße Frau Werring als Vorsitzende der Schulpflegschaft sowie ihre Stellvertreter, Frau El Meshai und Frau Grimm. Ich begrüße ebenso Lara Keßen, die Claudia Kotarsky, unsere Schülersprecherin, vertritt! Ich freue mich ferner über die Anwesenheit von Frau Rietkötter, der Vorsitzenden des Fördervereins, sowie des Ehrenvorsitzenden und ehemaligen Schulleiters, Herrn OStD a.D. Schulteis. Ich begrüße mit Freude die Herren Caspari und Bogedain vom Vorstand des Ehemaligenvereins, sie haben Ihnen als Geschenk das Organ des Ehemaligenvereins, die „Heftklammer“, mitgebracht, ein Mitgliedsantrag ist dabei, und Sie bekommen Ihr Zeugnis heute nur, wenn Sie den unterzeichnen!  Die katholische Kirche ist vertreten durch Herrn Pfarrer Georg Rücker, einen ehemaligen Ratsschüler. Herzlich willkommen! Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten. Herr Meinert von der WAZ ist auch ehemaliger Schüler.

 

 

 

Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige Schüler eingeladen: Von den Goldabiturienten ist anwesend Herr Brodmann, mehrere Klassenkameraden sind mitgekommen. Vom Abijahrgang 1986 ist Herr Vogtmeier aus Aachen angereist. Herzlich willkommen!

 

 

 

Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn wenn Sie Ihre Kinder nicht zur Welt gebracht, vor Kälte geschützt, mit gesunder mitteleuropäischer Kost ernährt, mit Bildung gefüttert und mit unerbittlichen erzieherischen Maßnahmen geformt hätten (etwa: heute machst du dir kein Abendbrot, heute machst du dir Gedanken!)  - ja dann säßen diese Ihre Kinder nicht hier und bekämen nicht in ca. einer halben Stunde das entscheidende Zeugnis in die Hand gedrückt.

 

 

 

Last but not least begrüße ich Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Sie wieder einmal mit großem Engagement einen Jahrgang erfolgreich zum Abitur geführt haben. Ganz herzlichen Dank Ihnen allen, besonders dem Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt,  und dem Jahrgangsstufenleiter, Herrn Jürgen Berger. Ich begrüße auch Herrn Dahmen, der nicht nur Vater einer Abiturientin ist, sondern uns auch freundlicherweise zurzeit im Fach Latein aushilft. Die Gesellschaft stellt ja an den Lehrerberuf durchaus widersprüchliche Anforderungen: „Gerecht soll er sein, der Lehrer“, schrieb Prof. Müller-Limmroth in der Zürcher Weltwoche, „und zugleich menschlich und nachsichtig. Straff soll er führen, doch taktvoll auf jedes Kind eingehen, Begabungen wecken, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und Aids-Aufklärung betreiben, auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei hochbegabte Schüler gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie begriffsstutzige. Mit einem Wort: Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen und zwar so, dass alle bei bester Laune und an drei verschiedenen Zielorten ankommen“. Ich hoffe, wir haben das einigermaßen bei Ihnen geschafft!

 

Sie haben mit dem Abitur eine Hürde genommen und eine Grenze überschritten. Und Sie haben das Gefühl, vor Ihnen liege die Welt, und die sei grenzenlos, und Sie haben alle einen grenzenlosen Optimismus. Entgrenzung, das ist das Stichwort der Gegenwart, über das ich mit Ihnen ein paar Minuten lang nachdenken möchte. Im Duden stand das Wort übrigens bis vor Kurzem nicht. Bei Google aber gibt es dazu schon ca. 30000 Einträge. Wikipedia definiert wie folgt:

 

Der Begriff Entgrenzung steht für die Aufhebung oder Auflösung von Grenzen, insbesondere:

 

 

Das ist nicht viel. Es ist nämlich in Wahrheit schier unübersehbar, in welchen Bereichen wirklich oder angeblich eine Entgrenzung stattfindet:

 

Es gibt die Entgrenzung der Erwachsenenbildung, die Entgrenzung der Jugendliteratur, die Entgrenzung der Medizin, die Entgrenzung nach rechts (bei konservativen politischen Parteien), die „multiple Entgrenzung der Arbeit des fliegenden Personals im kommerziellen Luftverkehr“, Soziologen schreiben über „Entgrenzung und Entscheidung“, es gibt die Entgrenzung der Künste, der Technik, der Männlichkeit, es gibt die libidinöse Entgrenzung und die begrenzte Entgrenzung (=Arrangements von Erwerbsarbeit und Privatleben bei Freelancern in den alten und neuen Medien). „Pimp my home“ (Aufmotzen der Wohnung) und „Entgrenzung“ sind Top-Trends auf der Möbelmesse, – das prägt den Wohnstil der „neuen deutschen Gemütlichkeit“ 2011. „Pimp my home“ wird zum Leitgedanken. Das rückt die „Einrichtungsrandbereiche“ wie Kissen, Tapeten und Accessoires zunehmend in den Blickpunkt. Dennoch, und das finde ich sehr beruhigend: Möbel bleiben „die wahren Helden der Wohnung“, so Ursula Geismann, Trendexpertin des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie (VDM) Generell verschmelzen die Wohnräume immer mehr. So werden Küche, Essen und Wohnen eins und die Bereiche Schlaf- und Badezimmer nähern sich weiter an. „Zusammengefasst trifft das Wort Entgrenzung diesen Trend gut. Früher fragte man sich, was gehört in ein Wohnzimmer? Heute fragt man, was will ich in mein Wohnzimmer stellen? Was will ich dort von mir erzählen?“, so Ursula Geismann. Der Hausherr und die Hausherrin als Epiker, wunderbar.

 

Sie sehen: Es gibt kaum einen Bereich der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Politik, der Literatur, wo der Begriff nicht verwendet wird.

 

Der einstige Hoffnungsträger und schon als zukünftiger Bundeskanzler gehandelte Freiherr zu Guttenberg überschritt schamlos die Grenzen wissenschaftlicher Redlichkeit und versuchte so lange wie möglich mit Lügen die Aufdeckung der Wahrheit bezüglich seines erschlichenen Doktortitels zu verhindern. Drastisch formulierte der Kabarettist Volker Pispers: „Das einzig Aufrechte an zu Guttenberg sind seine Haare in ungegeltem Zustand“.

 

Die Grenzen der Gewalt werden bei Jugendlichen immer häufiger überschritten, auch die des Alkoholkonsums, Stichwort: Komasaufen. Und ich denke an die schlimmen Missbrauchsfälle in der Kirche und in bestimmten Schulen.

 

Dass man Grenzen auslotet und überschreitet, ist etwas Urmenschliches. Nur auf diese Weise entstehen Freiheit und Unabhängigkeit. Heute jedoch geht es oft nicht mehr um das Überschreiten von Grenzen, sondern um eine Entgrenzung, die keinerlei Grenzen mehr anerkennen will. Wenn man die Zeitung aufschlägt, dann verschlägt es einem oft die Sprache: Menschen nehmen die Angebote von Seitensprungagenturen an, ein Wetterfrosch hatte gleichzeitig so viele Freundinnen, dass man sie an zwei Händen nicht abzählen konnte, und zur Belohnung für gute Geschäftsabschlüsse wird von einer Versicherung eine Sexparty geschmissen. Wir leben offenbar in einer Gesellschaft, in der Grenzen nicht mehr viel gelten.

 

Angesichts dessen muss man fragen: Läuft heute noch alles richtig? Überfordert Grenzenlosigkeit nicht am Ende den Menschen und die Welt, in der er lebt?

 

In seinem faszinierenden Buch „Der entgrenzte Mensch“ entfaltet der Psychologe Rainer Funk das moderne Phänomen der radikalen Entgrenzung in Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft, dessen Ursachen er in den neuen Möglichkeiten der digitalen Technik, der Vernetzung und der elektronischen Medien ausmacht. Das Fortschrittsdenken, sagt er, werde zunehmend durch ein Entgrenzungsdenken ersetzt. Deutlich wird, was auch der Philosoph Richard David Precht sagt: „Der Mensch als entgrenztes Wesen braucht Grenzen.“

 

Negatives Beispiel: Die Berufswelt ist zwar flexibler geworden, was grundsätzlich positiv ist. Allerdings gibt es für viele Leute keine Grenze mehr zwischen Berufs-  und Privatleben mehr, für sie ist es normal, auch nachts noch mal die E-Mails zu checken oder am Wochenende mit dem Chef Projekte zu besprechen. Es mehren sich aber auch die Stimmen, die – so Britta Heidemann in der WAZ – das „ständige Stand-by grenzwertig finden.“ Der FAZ-Herausgeber Schirrmacher klagt über „Ich-Erschöpfung“ und nennt Multi-Tasking „Körperverletzung“, Mirjam Meckel schreibt über ihr Burnout und Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel über den Wert der Muße.

 

Dass Grenzen fallen, kann natürlich oft auch ganz positiv sein. Vor 50 Jahren, im August 1961, wurde die Berliner Mauer gebaut, zugleich wurden die Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten dichtgemacht. Die Mauer war mit ihrem Todesstreifen jahrzehntelang Symbol der Unfreiheit. Sie fiel im November 1989. Der 3. Oktober 1990 brachte die Wiedervereinigung und ist unser Nationalfeiertag. Ich habe übrigens ein Stück der Berliner Mauer in meinem persönlichen Besitz (zeigen). Ich hoffe, es ist echt. Aber vielleicht ist es auch nur ein normales Stückchen Stein, das ist so ähnlich wie mit den Reliquien der katholischen Kirche. Absolut treffend dazu eine Stelle aus dem Schauerroman „Die Elixiere des Teufels“ von E.T.A Hoffmann aus dem Jahre 1815. Der Ich-Erzähler Bruder Medardus sagt: „So z.B. besitzt irgendein Kloster das ganze Kreuz unseres Erlösers, und doch zeigt man überall wieder so viele Späne davon, dass, wie jemand von uns selbst, freilich in freveligem Spott, behauptete, unser Kloster ein ganzes Jahr hindurch damit geheizt werden könnte.“ In der Tat: Der Glaube versetzt Berge, aber niemals einen Schüler mit zwei Fünfen ohne Ausgleich. Ich betrachte also das Stückchen Mauer als ein Symbol, egal, ob es echt ist oder nicht.

 

Die Auswirkungen der Politik und des religiösen Fanatismus können auch heute bedrohlich und tödlich sein. So empfehle ich Ihnen: Befolgen Sie den neuen kategorischen Imperativ des Philosophen Hans Jonas, welcher lautet: „Handle so, dass die Wirkungen Deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Das heißt, das Überleben der Gattung Mensch ist das Wichtigste. Er schrieb ferner: „In dubio pro malo“, im Zweifel für das Schlechte, das ist natürlich nicht auf die Handlungen bezogen, sondern auf die Prognosen. „Wenn im Zweifel, gib der schlimmeren Prognose vor der besseren Gehör, denn die Einsätze sind zu groß geworden für das Spiel.“ Wenn dieser Grundsatz stets befolgt worden wäre, hätte es z.B. die Weltfinanzkrise und die Katastrophe von Fukushima nicht gegeben.

 

Lernen Sie, Grenzen zu ziehen. Grenzen Sie aber nicht andere Menschen aus!

 

 

 

Ich danke Ihnen für Ihr vielfältiges Engagement, das unser Schulleben immer wieder bereichert hat, von der politischen Arbeit in der SV und die Mentorentätigkeit über die journalistische Aktivität in der Schülerzeitung RATSIA, Ihre Siege in künstlerischen Wettbewerben und Sportwettkämpfen, die Mithilfe bei der Gestaltung des Schulgebäudes und Ihre Gastfreundschaft gegenüber ausländischen Besuchern bis zur Mitwirkung in den vielen schönen Theaterstücken und Schulkonzerten. Ein Ex-Schüler des Rats ist Prof. Dr. Kai Wehmeier, Abitur 1985. Er lehrt Logik und Wissenschaftsphilosophie an der University of California. Er schreibt mir in einem Beitrag für die Jubiläumsfestschrift, die im Herbst erscheinen wird, einiges, das mich gerührt hat:

 

 

 

In der Theaterkreis-Aufführung von „Biedermann und die Brandstifter“ habe ich 1981 in der Aula zum ersten Mal in meinem Leben Händchen gehalten, und zwar mit meiner Freundin Anne. So was vergisst man natürlich nicht.

 

Dann der Tadel, den Herr Stach dem Piese und mir in der Quinta verpasst hat, „wegen ungehörigen Verhaltens im Mathematikunterricht“ (wir hatten eine Strafarbeit schon während des unsäglich langweiligen Unterrichts eines Referendars erledigt). Da war ich zuerst voll geschockt. Aber als dann die Benach­richtigung nach Hause kam (im blauen Briefumschlag, wie sich's gehört) und ich das Formular (an den Rändern ganz vergilbt) gesehen habe, musste ich doch ein bisschen lachen: Da stand doch tat­säch­lich „Der Arrest ist angesetzt für: …“. Immerhin hatte die Schulleitung davon abgesehen, einen Termin einzutragen.

 

Und schließlich erinnere ich mich, wie meine Freundin Imke und ich nach dem Abi-Ball in der Bernd-Schnock-Halle mitten in der Nacht auf dem Bordstein des Kirchhellener Rings gesessen und geweint haben, weil uns klar geworden war, dass die Schulzeit jetzt endgültig vorbei ist.“

 

 

 

Das Abitur ist eine Grenze, die Sie überschritten haben. Vergessen Sie Ihre Ursprünge, ihre schulische Herkunft nicht! Sie sind herzlich eingeladen, zum Jubiläum „Alt geworden – jung geblieben - 111 Jahr Ratsgymnasium“ im Herbst wiederzukommen. Back to the roots, back to the Rats!