Abiturrede 1997

 

Thema: Beruf des Lehrers

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Eltern, liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ - Goethezitate bieten sich bei fast jeder Gelegenheit an, aber dieser Satz aus dem FAUST paßt heute besonders gut. Sie haben immer strebend sich bemüht - oder sagen wir: fast immer, Sie werden heute erlöst, der langersehnte Tag ist da, Sie sitzen hier in der Aula, wie damals, als Sextaner, in den vorderen Reihen, nur dass Sie erheblich älter, größer und reifer geworden sind.

 

Wir haben uns versammelt, um mit Ihnen zu feiern und Ihnen zu Ihrem bestandenen Abitur zu gratulieren. Dabei zeigt die große Zahl der Gäste die besondere Bedeutung dieses Ereignisses und die enge Verbundenheit des Ratsgymnasiums mit seinem gesellschaftlichen Umfeld. Ich begrüße ganz herzlich als Vertreter der Stadt Gladbeck die stellvertretende Bürgermeisterin, Frau Ansorge, und den Kulturdezernenten Herrn Dr. Andriske, als Vertreter der Kirchen Herrn Kaplan Steinrötter und Herrn Pfarrer Hildebrandt. Ich begrüße ebenso herzlich unsere ehemaligen Kollegen, an ihrer Spitze meinen Amtsvorgänger Herrn OStD a.D. Schulteis, der auch in seiner Eigenschaft als stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins anwesend ist. Herzlich willkommen sind uns auch die Vertreter der Presse und des Rundfunks. Wir freuen uns ferner über die Anwesenheit von Frau Schilgen, die in Vertretung von Frau Rietkötter, der 1. Vorsitzenden der Elternpflegschaft, zu uns sprechen wird, und von Sonja Petri, der engagierten Schülersprecherin.

 

Außerdem sind heute ein Gold- und zwei Silberabiturienten zu Gast, vor 50 Jahren machte hier Herr Karl Vogtmeier sein Abitur, vor 25 Jahren waren es Herr Rolf Flegel und Herr Wolfgang Spieckermann. Herzlich willkommen an der alten Schule!

 

Last but not least begrüße ich Sie, meine verehrten Eltern. Ich gratuliere auch Ihnen und sage Ihnen herzlichen Dank, denn auch Sie haben - in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit uns Lehrerinnen und Lehrern - dafür gesorgt, dass Ihre Kinder erzogen und zugleich gebildet wurden.

 

Mein Dank gilt natürlich auch meinen Kolleginnen und Kollegen, die Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auf dem oft steinigen Weg von Klasse 5 bis Klasse 13 geleitet und begleitet haben. Sie alle haben daran mitgearbeitet, Ihnen das Wissen und die Bildung zu vermitteln, die nötig sind, um die mit dem Abitur verbundenen Qualifikationen zu erlangen. Stellvertretend nenne ich die Jahrgangsstufenleiter, die in der Oberstufe Ihre verläßlichen Berater waren, zunächst in den Jahrgangsstufen 11 und 12 Frau Schnackers, inzwischen Studiendirektorin, dann in der Jg. 13 Herr StD Gerhard Schmidt.

 

Jedes Mal, wenn eine Abiturientia verabschiedet wird, kommt man als Lehrer unwillkürlich dazu, über den eigenen Beruf nachzudenken. Die Gesellschaft stellt an diesen Beruf durchaus widersprüchliche Anforderungen: „Gerecht soll er sein, der Lehrer“, schrieb Prof. Müller-Limmroth in der Zürcher Weltwoche, „und zugleich menschlich und nachsichtig. Straff soll er führen, doch taktvoll auf jedes Kind eingehen, Begabungen wecken, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und Aids-Aufklärung betreiben, auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei hochbegabte Schüler gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie begriffsstutzige. Mit einem Wort: Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen und zwar so, dass alle bei bester Laune und an drei verschiedenen Zielorten ankommen“. Nach Müller-Limmroths Meinung erwartet die Gesellschaft also eine Mischung aus Reinhold Meßner und Dr. Specht. Dass meine Kollegen sich wieder mal mit Bravour diesem Ideal genähert haben, darüber freue ich mich sehr. Einfach war es nicht immer. Meine Damen und Herren, Sie können sich sicher die Magenschmerzen eines Deutschlehrers vorstellen, der auf die Frage nach dem Autor des Romans „Der Zauberberg“ die Antwort erhält: Luis Trenker, der erlebt, wie der Titel der Ballade „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind“ plötzlich „Der Ölprinz“ lautet und wie aus dem Kafka-Helden Gregor Samsa im Schülermund ein Gregor Sumsemann wird!

 

Und damit zu Ihnen, meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten. Sie erwarten sicher von mir keine hehren Worte in der Art, wie wir sie vor 30 Jahren zu hören bekamen: ich zitiere im Originalton: „Öffnen Sie Ihre Herzen in Demut und Ehrfurcht vor der unerforschten Allmacht“ und: „Ihr Abitur ist als Bekenntnis zur Kontinuität des abendländischen Geistes zu werten.“ Angesichts der für Sie nicht gerade rosaroten Aussichten (laut der jüngsten Shell-Studie sehen 51 % der Jugendlichen ihre Zukunft „eher gemischt“, 35 % „eher düster“) möchte ich Ihnen stattdessen ein paar Gedanken und Ratschläge mit auf den Weg geben, die mir in den letzten Tagen durch den Kopf gegangen sind.

Der Satz „non scholae sed vitae discimus“ bedeutet, dass man nicht für die Lehrer oder die Eltern, sondern für sein eigenes Leben lernt. Und das beginnt nicht erst, wie die lateinische Weisheit nahelegt, nach dem Abitur. Die Jahre zwischen dem 10. Und dem 20. Geburtstag sind die entscheidenden Jahre des Lebens, man wird vom Kind zum Erwachsenen, man gewinnt neue Perspektiven, neue Einsichten und vor allem einen immensen Wissenszuwachs. Es ist die Zeit der Persönlichkeitsentwicklung, der Identitätsfindung, der ersten Liebe. In Schillers Ballade „Die Glocke“, die wir im Deutsch-Leistungskurs interpretierten, heißt es - sprachlich vielleicht altmodisch, inhaltlich jedoch zeitlos aktuell - über den jungen Verliebten: „Errötend folgt er ihren Spuren / und ist von ihrem Gruß beglückt.“ Das ist natürlich ein Verspaar, bei dem Julia die Nase rümpfte, Sandra die Krise kriegte, Andrea Frauenfeindlichkeit witterte und Sebastian, der Gast vom Heisenberggymnasium, sich wunderte, dass an unserer vermeintlich schwarzen Schule überhaupt etwas Rotes im Unterricht auftauchte!

„Die Sachen klären, die Menschen stärken“ - dieses Motto des Pädagogen Hartmut von Hentig ist auch unser Motto, und wir stimmen ihm zu, wenn er sagt: „Pädagogik ist nicht dann gut, wenn sie Probleme vorwegnimmt und die jungen Menschen mit Lösun-gen wie Reiseproviant ausstattet. Sie sollte sie zum „Reisen“ ermutigen, sie befähigen, die Chancen und Gefahren zu erkennen, die auf sie warten, ihnen Maßstäbe geben und Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten - und einen Überblick über die verfügbaren Mittel.“

 

Bewahren Sie sich Ihre auf diese Weise gewonnene kritische Haltung: sie ist laut Brecht die einzig produktive, menschenwürdige. Gehen Sie an Ihre neuen Aufgaben mit Herz und Verstand heran. Erdrückend scheinen die Probleme zu sein, die sich vor uns allen aufgetürmt haben. (Ich nenne als Beispiele nur Umweltzerstörung, Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, Informationsüberflutung, AIDS, Drogen, Kriege und Menschenrechtsverletzungen.) Aber die Probleme müssen wie im Mythos von Sisyphus immer wieder angepackt werden, mit Willenskraft und Zivilcourage. Seien Sie tolerant, aber nicht gegenüber der Intoleranz. Eine Haltung, die alles gelten lässt, ohne sich damit auseinanderzusetzen, ist gefährlich. Haben Sie den Mut, Stellung zu beziehen. Bedenken Sie allerdings dabei die Worte des Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg: „Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“

 

Bewahren Sie sich ferner bei all dem als Element Ihrer Kindheit und Jugend Ihren Humor. Denken Sie daran, dass die Mächtigen, die Ideologen, die Medienhäuptlinge und die Sektenbosse nichts mehr fürchten als das befreiende Lachen. Ich erinnere Sie an den alten Fanatiker Jorge in Umberto Ecos “Der Name der Rose“, der aus panischer Angst vor dem Lachen all diejenigen umbringt, die des Aristoteles verschollen geglaubte Schrift über die Komödie den Menschen zugänglich machen wollen. Aber nehmen Sie sich selbst von der lachenden Kritik nicht aus. Alfred Biolek sagte, der Humor sei „die Kunst, sich selbst auf den Arm zu nehmen, ohne dabei in die Knie zu gehen.“

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ich danke Ihnen für Ihr vielfältiges Engagement, das unser Schulleben immer wieder bereichert hat, von der politischen Arbeit in der SV über die journalistische Tätigkeit in der Schülerzeitung RATSIA, Ihre Siege in künstlerischen Wettbewerben und Sportwettkämpfen, die Mithilfe bei der Gestaltung des Schulgebäudes und Ihre Gastfreundschaft gegenüber ausländischen Besuchern bis zur Mitwirkung in den vielen schönen Theaterstücken, Musicals und Schulkonzerten. Dies alles verdient Dank und Anerkennung. Daher meine Bitte und mein Rat: Machen Sie in diesem Sinne weiter, engagieren Sie sich in einer politischen Organisation, nehmen Sie teil am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, tun Sie mehr, als der Beruf von Ihnen verlangt. Es wird sich auszahlen, obwohl es unbezahlbar ist, und zwar in einem Plus an Anerkennung, und Lebensfreude.

 

Zum Schluß meiner Rede erweitere ich für Sie unser Schulmotto: Vorwärts in Richtung Erfolg, aufwärts in Richtung Glück, seitwärts blicken ohne Scheuklappen, und hin und wieder zurückdenken oder zurückkehren ans Ratsgymnasium!