Rede

des Schulleiters Manfred Lauffs

zur Verabschiedung der Abiturientia 2004 (25.6.2004)

 

 

Immanuel Kant



Liebe Eltern,
liebe Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

 

Er rührte den Senf für seine Mahlzeiten am liebsten selber an und gab, wie böse Zungen behaupten, gern überall seinen Senf dazu. Er war und ist der größte Philosoph der Welt seit Platon und Aristoteles, aber er hatte panische Angst vor Wanzen, die er durch absolute Verdunklung des Zimmers bekämpfen wollte. Er hat so gut wie nie seine Heimatstadt Königsberg verlassen und war doch weiter im Weltall als wir alle. Er sah die „Welt als Wirtshaus, Zuchthaus, Tollhaus oder Kloake“ und fand nichts empörender als „Ungerechtigkeit – alle anderen Übel die wir ausstehen sind nichts dagegen.“ Zeitgenossen nannten ihn den „Alleszermalmer“, den „großen Zerstörer im Reich der Gedanken“. Die Rede ist von Immanuel Kant. Er starb 1804, vor 200 Jahren, und für mich ist das der Anlass, mit Ihnen ein bisschen darüber nachzudenken, was er für uns heute bedeutet. Es gibt auch andere Gedenktage im Jahre 2004, aber Kant schien mir als Thema einer Abiturrede doch etwas besser geeignet als etwa Harald Juhnke oder Donald Duck. Über das Wunder von Bern vor fünfzig Jahren ist schon genug gesagt, geschrieben, gefilmt und gesendet worden, wohingegen das Wunder von Bernd ja gerade erst geschehen ist bzw. vor morgen früh ja nicht vorbei sein wird. Es ist natürlich auch mein Thema, das ich versuche mit Kant in Beziehung zu setzen.

Ich gratuliere also zunächst einmal den Damen und Herren hier vorn herzlich zu diesem Wunder, das sie vollbracht haben, nämlich zum bestandenen Abitur!  Ein Beweis für Immanuel Kants Behauptung: „Das schöne Geschlecht hat ebensowohl Verstand als das männliche“. Sie sind jetzt am Ziel, auch wenn Sie nicht jeden Morgen um 5 Uhr aufgestanden sind wie Kant, und Ihnen wird klar: Es gibt für Sie auch ein Leben jenseits von EDE!

Bevor ich mich weiter Kant zuwende, darf ich zunächst unsere Gäste begrüßen, die gekommen sind, um Ihnen zu gratulieren und mit uns zu feiern! Herzlich willkommen heiße ich die Vorsitzende des Kulturausschusses des Rates der Stadt Gladbeck, Frau Rösch-Schürmann, Herrn Roland, den Leiter des Schulverwaltungsamtes, der heute auch als Vater kommt, Herrn Müller als Vorsitzenden und Frau Landmesser als stellvertretende Vorsitzende der Schulpflegschaft, und Lisa Kirschbacher, unsere engagierte Schülersprecherin. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit von Frau Rietkötter, der Vorsitzenden des Fördervereins, die heute auch als Mutter anwesend ist, und von Herrn Steffen, dem Vorsitzenden des Ehemaligenvereins, er wird Ihnen als Geschenk das Organ des Ehemaligenvereins überreichen, die "Heftklammer", ein Mitgliedsantrag ist dabei, und Sie bekommen Ihr Zeugnis heute nur, wenn Sie den unterzeichnen ... Herr Schulteis, mein Vorgänger und zugleich stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins, kann leider nicht kommen und bedauert dies sehr, da Sie der letzte Jahrgang sind, den er als Schulleiter vor seiner Pensionierung damals in der Aula begrüßt hat, er gratuliert Ihnen aber von Herzen und wünscht Ihnen alles Gute für die Zukunft! Als Vertreter der Kirchen begrüße ich herzlich ich Herrn Superintendenten Mucks-Bücker und freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige Schüler eingeladen: Von den Goldabiturienten hat leider keiner Zeit, manche sind krank, manche in Urlaub, sie lassen aber herzlich grüßen. Vom Abijahrgang 1979 aber sind Dr. Martin Danner und Christoph Witzke anwesend – herzlich willkommen!


Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn Sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass diese Ihre Kinder hier sitzen und in ca. einer halben Stunde das entscheidende Zeugnis in die Hand gedrückt bekommen. Auch Sie haben sich als Experten in Pädagogik und Psychologie erwiesen, haben in puncto Bildung und Erziehung eng mit der Schule zusammengearbeitet, dem Nachwuchs gratis Kost, Logis, Transport und Therapie geboten und ihn an die Arbeit gebracht, nach dem Motto: „Heute machst du dir mal kein Abendbrot, heute machst du dir Gedanken!“ Wenn ich so in die Runde blicke, sehe ich übrigens Kants Worte bestätigt: „Dem Alter geziemen dunklere Farben und Einförmigkeit im Anzuge, die Jugend schimmert durch hellere und lebhaft abstechende Kleidungsstücke.“


Und damit begrüße ich last, but not least, herzlich auch meine Kolleginnen und Kollegen, die unsere Abiturientinnen und Abiturienten auf dem Weg von Klasse 5 bis Klasse 13 begleitet haben. Sie alle haben daran mitgearbeitet, ihnen das Wissen und die Bildung zu vermitteln, die nötig sind, um die mit dem Abitur verbundenen Qualifikationen zu erlangen. Als Schulleiter bedanke ich mich für das große Engagement des Kollegiums und nenne stellvertretend  Ihren Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Brüninghoff, eben den Wunderbernd, und den Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt! Ich weiß allerdings nicht, ob die Kolleginnen und Kollegen auch manchmal das Lehramt wie Kant mit einem Amboss vergleichen, auf dem man täglich mit schwerem Hammer den Takt schlagen muss.

Meine Damen und Herren,  um 1900 begann in einem deutschen Lesebuch ein Gedicht mit dem Reim: „Den Kategorischen Imperativus fand, das weiß ein jedes Kind, Immanuel Kant“. Heute weiß das nicht einmal mehr jeder Erwachsene. Immanuel Unbe-kannt! Dabei gehört dieser Mann zweifelsohne zu den größten Geistern aller Zeiten. Noch heute sind Legionen von Wissenschaftlern damit befasst, seine Gedanken zu interpretieren, weiterzugeben oder auch zu bekämpfen. Philosophie ist ohne Auseinandersetzung mit Kant undenkbar. Der Kant-Experte Professor Otfried Höffe von der Universität Tübingen weist darauf hin, dass Kants Gedanken weite Bereiche des wissenschaftlichen und politischen Lebens bestimmen. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, das Hauptwerk aus dem Jahre 1781, beinhalte ein philosophisches Programm, das Weltgeschichte geschrieben habe. „Der Mensch besitzt einen Wert, der nicht verrechnet werden darf, sondern, wie Kant sagt, über jeden Preis erhaben ist.“ Auch könne man auf die heutige Mathematiktheorie, Physiktheorie oder Religionsphilosophie eingehen und träfe überall Kantische Gedanken.

Dabei war das Leben dieses Gelehrten eher bescheiden und unauffällig, allerdings war der große Gelehrte, körperlich nur 1,59 m groß, von einer gewissen Kauzigkeit und Verschrobenheit, die bei manchen Lesern sogar dazu führt, dass sie die Werke auf ihre versteckte Komik abklopfen. Da findet man dann so witzige Sätze wie „Wenn die Araber gleichsam die Spanier des Orients sind, so sind die Perser die Franzosen von Asien“. Oder: „Der Mensch geht in eine Komödie, um zu lachen und besser zu transpirieren.“

Kant, geboren am 22. April 1724, liebte seine Eltern, weil sie die Grundlagen seiner Moralphilosophie legten. Aber in der Schule, dem Collegium Fridericianum, fühlte er sich nicht sehr wohl: „Zwang, Mechanismus und ein Gängelwagen der Regeln“ waren an der Tagesordnung, montags bis samstags von 7 bis 16 Uhr. Keine Zeit zu Jobben nebenbei! Die Kinder sprachen nur Latein, weil – so die Verordnung - „das Deutsche ärgerlich und schädlich ist.“ In Latein und Griechisch war der kleine Immanuel gut, mit Rechnen und Religion ging’s nicht so erfreulich, im Schönschreiben versagte er. Obwohl er stets Primus war, durchlitt er seine „beschwerlichsten Jahre“ in der Schule. Eine Gebühr für Langzeitstudenten hätte er sicher nicht bezahlen müssen: Magisterexamen, Dissertation, Habilitation – das alles legte der 21 Jahre alte Student in bloß fünf Monaten ab, im Jahre 1755. Er wurde Privatdozent an der Universität Königsberg und las, weil er dringend Geld brauchte, über alles: nicht nur Metaphysik, Logik und Anthropologie, sondern auch Mathematik, Physik, Geografie, Naturrecht, Mechanik, Mineralogie und Pyrotechnik. Schade, dass es so jemanden am Rats nicht gibt! Erst 15 Jahre später wurde Kant endlich zum Professor berufen.

Sein tägliches Leben verlief  pedantisch, pünktlich, altfränkisch, oft ein wenig wunderlich. Dass er jeden Morgen um 5 Uhr aufstand, habe ich schon erwähnt. Sein Diener Lampe musste ihn wecken und hatte den Befehl, den Herrn zum Aufstehen zu zwingen. Die Leute stellten die Uhr nach ihm, denn um Punkt sieben verließ er abends seine Gesprächsrunde. Um Punkt zehn Uhr zog er den Zipfel der Decke über die Schulter, rollte sich ein und erwartete den Schlaf. Die Umwelt musste genau geordnet sein. Ein woanders als gewöhnlich stehender Stuhl brachte ihn zur Verzweiflung. Gegen die Vergesslichkeit, ein typisches Leiden zerstreuter Professoren, hatte er eine seltsame Heilmethode: Als sein Diener Lampe entlassen werden musste, kam Kant nur schwer darüber hinweg, er wollte also nicht mehr daran denken. Um diesen Entschluss aber nicht zu vergessen, schrieb er auf einen Merkzettel: „Lampe muss vergessen werden!“ Man darf sich Kant allerdings nicht als einen verstaubten, langweiligen Kathedergelehrten vorstellen. Zeitgenossen rühmen seine geistreiche Art. Herder schreibt: Kant „in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. ... die gedankenreichste Rede floss von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang.“ Er blieb übrigens zeitlebens unverheiratet. „Da ich ein Frau brauchen konnte, konnt ich keine ernähren“, meinte er lakonisch, „und da ich eine ernähren konnte, konnt’ ich keine mehr brauchen“. 1796 hielt er seine letzte Vorlesung. Am 12. Februar 1804 starb Kant, fast 80-jährig. Die Freunde planten ein stilles Begräbnis, doch die Menschenschlange hinter seinem Sarg wurde kilometerlang. Über seinem Grab brachten  Bürger später eine Tafel an, auf der das berühmte Zitat aus der „Kritik der praktischen Vernunft“ steht: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Was für ein ungewöhnlicher, eigenwilliger, schöner Satz! Allerdings nicht talkshow-kompatibel.

Ich denke, drei geistige Errungenschaften sind es vor allem, die Kant unsterblich machen und an die wir uns heute erinnern sollten. Sie können nämlich weiterhin Leuchttürme unseres Denkens und unseres persönlichen und gesellschaftlichen  Lebens sein. Die erste ist der kategorische Imperativ. Kant geht in seiner autonomen Pflicht-Ethik davon aus, dass es der Vernunft zwar unmöglich ist, Gegenstände a priori, d.h. ohne Erfahrung zu erkennen,  sie kann aber den Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten bestimmen. Prinzipien, die uns zu rechtem Handeln verleiten sollen, können nicht aus Erfahrungen abgeleitet werden, weil die bei jedem Menschen unterschiedlich sind. Sie müssen vielmehr die Bedingungen des Handelns nennen und die enthält der kategorische Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“  Das entspricht in etwa der Volksweisheit: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ So klingt es banal, der kategorische Imperativ gehört jedoch zu den bedeutendsten philosophischen Gedanken Kants. Er ist logisch unanfechtbar und gilt ohne „Wenn und Aber“. Er ist die Grundlage der zivilisierten Gesellschaft.

Die zweite Errungenschaft ist Kants Definition und Beförderung der Aufklärung am Ausgang des 18. Jahrhunderts. „Aufklärung“ – so Kant in seiner berühmten Schrift von 1792 – „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Das ist ein Text von einer ungeheuren Sprengkraft, der noch heute begeistert. Er ist das Signal für den Anbruch der Gegenwart, der modernen Wissenschaft, der demokratischen Gesellschaft, Signal für das Ende des Absolutismus und des Dogmatismus, das Ende der Mächte, die den Menschen bevormunden wollen, seien sie weltlicher oder kirchlicher Provenienz, und mit seiner Kritik hat sich Kant sehr wohl deren Feindschaft zugezogen. Ein Blick in die Presse, ein Blick in die Fernsehnachrichten genügt, um uns klar zu machen, dass das riesige Projekt der Aufklärung noch lange nicht beendet ist, ja dass es auch immer wieder Rückschläge erleiden kann.

Drittens ist Kant der größte Friedensphilosoph. 1795 erklärt er in der Schrift „Zum Ewigen Frieden“, dass sich Kriege mit der Vernunft nicht vereinbaren lassen, und fordert deshalb die Gründung eines Völkerbundes, an dem alle Staaten beteiligt sein sollen. So lasse sich der Frieden am besten sichern. Die Verfassung der Staaten soll „republikanisch“ sein, wir würden heute sagen „demokratisch“. „So ist der ewige Friede“, schreibt Kant, der Ahnherr der UNO, „...keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die ... ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt.“ Ein Satz von verblüffender Aktualität im unserem neuen Jahrtausend, wie auch viele andere Sätze des Königsbergers, etwa die, in denen er den Angriffskrieg „den Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten“ nennt oder den Fanatiker beschreibt: er sei „eigentlich ein Verrückter von einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk.“ Genial und überraschend gegenwärtig nennt der SPIEGEL die Kant’sche Verbindung zwischen Religionskritik und Friedenstheorie. 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Heute werden Sie nun aus dieser Schule entlassen. Für Ihr großes Engagement im schulischen Leben,  in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG - danke ich Ihnen herzlich. Ich hoffe, Sie werden  sich an das Ratsgymnasium anders zurückerinnern als Immanuel Kant, der mit „Bangigkeit und Schrecken“ an die „Jugendsklaverei“ in seinem Collegium Fridericianum dachte!

 

Zum Schluss ein paar Imperative von Ihrem Schulleiter. Arbeiten Sie mit an der Aufklärung und an der Friedenssicherung! Gehen Sie weiter vorwärts und aufwärts! Aber seien Sie nicht zu perfektionistisch, denken Sie an Kants Worte: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Und vergessen Sie heute Abend vor dem Ball nicht den kategorischen Aperitif!