Rede
des Schulleiters Manfred Lauffs
zur Verabschiedung der Abiturientia 2003 (21.6.2003)
LERNEN UND LUSTPRINZIP
Liebe Eltern,
liebe Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!
Mit der Schule ist es wie mit einer
Medizin: Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts." Bei einem Fernsehquiz würde kaum einer von Ihnen einen Joker benötigen, um die Frage zu beantworten, wer diesen Satz in welchem
Kultfilm sagt, es ist natürlich Professor Crey alias Schnauz in der "Feuerzangenbowle." Ich glaube nicht, dass der Satz stimmt. Ich glaube auch nicht, dass er jemals gestimmt hat. Ich bin
vielmehr sicher, dass es eine enge Beziehung zwischen Lernen und Lustprinzip gibt, und möchte heute darüber mit Ihnen ein bisschen nachdenken.
Ich gratuliere allerdings zunächst einmal den Damen
und Herren hier in der Pole-Position herzlich zum bestandenen Abitur, Sie haben es mit Bravour geschafft! Der Weg dorthin war manchmal STEINig und STACHlig, bisweilen ging es über Ge-RÖLL, der
eine oder die andere hat sich während des LAUF(F)S auch mal verSCHÄTZELt, aber Sie haben FRITSCH und munter weitergemacht und nie die APPELHOFFnung verloren, Sie sind jetzt am Ziel, und Ihnen
wird klar: Es gibt für Sie auch ein Leben jenseits von EDE!
Bevor ich zu meinem heutigen Thema "Lernen und
Lustprinzip" zurückkehre, darf ich zunächst unsere Gäste begrüßen, die gekommen sind, um Ihnen zu gratulieren und mit uns zu feiern! Herzlich willkommen heiße ich Herrn Bürgermeister Eckhard
Schwerhoff, Frau Claudia Landmesser als Stellvertretende Vorsitzende der Schulpflegschaft, und Johanna Hildebrandt, unsere engagierte Schülersprecherin. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit
von Herrn Gerd Steffen, dem Vorsitzenden des Ehemaligenvereins, er wird Ihnen als Geschenk das Organ des Ehemaligenvereins überreichen, die "Heftklammer", ein Mitgliedsantrag ist dabei, und Sie
bekommen Ihr Zeugnis heute nur, wenn Sie den unterzeichnen ... Sein Stellvertreter Theo Stritzke ist auch gekommen. Ich begrüße ferner herzlich die Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets
mit kritischer Sympathie begleiten.
Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige
Schüler eingeladen: Vor 50 Jahren hat Herr Dr. Friedhelm Radermacher sein Abitur gemacht, ein wohlbekannter Gladbecker Allgemeinmediziner, und vom Abijahrgang 1978 sind eine ganze Reihe von
Schülerinnen und Schülern gekommen - ihr Sprecher ist Ralf Sikorski, inzwischen Dozent an der Fachhochschule für Steuerrecht in Nordkirchen. Ich habe ihn eingeladen, obwohl er als Schüler vor 26
Jahren mich mal mit der Pistole bedroht hat. Hier auf der Bühne. In der Komödie "Die Physiker", er war Einstein, ich war Möbius! Herzlich willkommen am Ratsgymnasium, Ralf alias Albert!
Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere
Ihnen, liebe Eltern, denn wenn Sie Ihre Kinder nicht zur Welt gebracht, vor Kälte geschützt, mit gesunder mitteleuropäischer, indischer oder kroatischer Kost ernährt und mit Bildung gefüttert
hätten, dann säßen diese Ihre Kinder nicht hier und bekämen nicht in ca. einer halben Stunde das entscheidende Zeugnis in die Hand gedrückt. Ein Tipp von mir: Sie, liebe Abiturientinnen und
Abiturienten, sollten dem Hotel "MAMA's Palace" und dem Taxiunternehmen "DADDY Helldriver" einen dicken Blumenstrauß überreichen!
Herzlich begrüße ich auch meine Kolleginnen und
Kollegen, die Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auf dem Weg von Klasse 5 bis Klasse 13 begleitet haben. Sie alle haben daran mitgearbeitet, Ihnen das Wissen und die Bildung zu
vermitteln, die nötig sind, um die mit dem Abitur verbundenen Qualifikationen zu erlangen. Stellvertretend nenne ich Ihren Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Hugo Appelhoff, und den
Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt!
Meine diesjähriges Thema lautet: "Lernen und
Lustprinzip".
Und die Hauptthese ist: "Lustvolles Lernen ist
besonders erfolgreich." Dass Bildung und Unterhaltung zusammen gehören, wussten schon die alten Römer. "Prodesse et delectare" hieß das Motto des Horaz: "Entweder nützen oder erfreuen wollen die
Dichter / oder zugleich, was erfreut und nützlich fürs Leben ist, sagen". Vielleicht, so vermutet der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin, ist das Schlimmste an unserer heutigen
Spaßgesellschaft, dass sie in ihrer Option für den reinen Spaß die Nützlichkeit so ernst denkt und das Ernste so freudlos macht. Dabei macht es doch Spaß, sich mit Problemen auseinander zu
setzen. Im 20. Jahrhundert hat der Dichter Bertolt Brecht immer wieder darauf hingewiesen, dass Genuss und Erkenntnis, Lernen und Sich-Amüsieren, Vergnügungstheater und Lehrtheater keine
Gegensätze sind, sondern sich bedingen. So schuf er sein episches Theater, seine zahlreichen Dramen, in denen er diese Theorie verwirklichte. Sein "Galilei" ist vielleicht das glänzendste
Beispiel eines Mannes, der aus Sinnlichkeit denkt, für den Forschen und Lernen einen ungeheuren Lustgewinn bedeutet. Lernen und lesen - ich füge ein: Lernen ohne Lesen ist wie Schwimmen ohne
Wasser - Lernen und Lesen können also und sollten also ein großes Vergnügen sein. Aber ist das immer der Fall? Schon Brecht hat von dem schulischen Lernen als von einer Mühsal gesprochen, und
zwar dann, wenn man keinen Sinn und Nutzen darin erkennt. Ist das nicht genau der Befund, den man aus der PISA-Studie 2000 ablesen kann? Darin steht: "Auch die Freude am Lesen ist in Deutschland
vergleichsweise gering ausgeprägt". 42 % der befragten 15-jährigen Schüler haben angegeben, nicht zum Vergnügen zu lesen. Hier haben Schule, Elternhaus und andere Bildungsträger ohne Zweifel eine
Zukunftsaufgabe vor sich. Man könnte den Schülern vermitteln, dass Lektüre etwas Erotisches ist - wie es Tucholsky so schön formuliert hat: "Entweder du liest eine Frau, oder du umarmst ein Buch.
Beides zugleich geht nicht."
Wir halten also fest: Nötig und wichtig für
erfolgreiches Lernen sind die damit verbundene Freude, das Ergötzen, das Erstaunen, die Faszination - all dies wird nicht allein durch die Gegenstände selbst erweckt, sondern auch durch die
Lehrerinnen und Lehrer, die Ihr Fachwissen und ihre Begeisterung an die Schüler weitergeben. Das gilt für alle Fächer. Es gibt nicht nur die Schönheit und Klarheit eines Gedichts, sondern auch
die einer mathematischen Formel, eines Schmetterlingsflügels unter dem Mikroskop oder einer englischen Redewendung, es gibt die Freude am Entdecken im Geographie- wie im Physikunterricht. Das,
was einem Spaß gemacht hat, behält das menschliche Gedächtnis am Besten, und mehr als Gehörtes, Gesehenes und Gelesenes bleibt haften, was man selbst produziert hat: sei es ein Aufsatz, eine
Facharbeit, ein Gedicht, ein Experiment, eine Rollengestaltung im Theaterkreis. Fügen wir hinzu: Der Spaß kann im Unterrichtsgegenstand selbst stecken, etwa in einer Komödie oder in einem
Nonsens-Gedicht. Schließlich ist Humor aber auch eine Haltung, die man gegenüber der Welt bzw. gegenüber den Gegenständen einnimmt. Es ist z.B. für uns erstaunlich, dass Franz Kafka, dessen
Geschichten und Romane uns als zutiefst melancholisch und depressiv, ja manchmal sogar grausam erscheinen, mit seinen Freunden beim gemeinsamen Lesen dieser Texte viel gelacht haben soll. Es gibt
eben auch ein Vergnügen an tragischen Gegenständen, darauf hat schon Schiller in einem berühmten Aufsatz von 1791 hingewiesen. Schiller meinte etwa die blutrünstigen Dramen Shakespeares, heute
braucht man als Beispiel nur auf die Beliebtheit von Kriminalfilmen und -romanen hinzuweisen. Und die Komödien Dürrenmatts - ich erwähnte vorhin die "Physiker" - sind ja alle auch in Wahrheit
Tragikömödien, erzielen ihre Effekte aus Grusel und Groteske.
Ein mögliches Missverständnis muss ich noch
ausräumen. Wenn ich für das Lustprinzip im Unterricht plädiere, bedeutet das nicht, dass der Lehrer dem Fernsehentertainment bedingungslos hinterhereilen sollte, dass die Schule zum
Vergnügungspark wird. Überschneidungen sind dennoch vorhanden, und dagegen ist nichts einzuwenden. Ich erinnere an die berühmte SOWI- und Geschichtsshow "Ich stelle mich" mit einem allseits
bekannten und beliebten Moderator.
Und außerdem ist klarzustellen: Schule und
Unterricht vertragen im weiten Bereichen nicht die Schnelligkeit der heutigen Medienerzeugnisse, der Computerspiele, der Videoclips. Wir Lehrer können und wollen nicht von Thema zu Thema zappen,
von einem Gag zum andern switchen und jeden Tag die Matrix reloaden. Unterricht - als Vorbereitung auf ein akademisches Studium und auf weiteres lebenslanges Lernen - braucht Ruhe, Muße, muss
Zeit geben, sich mit einem Thema oder mit einem Problem intensiv zu befassen. Ein Musikstück oder ein Gedicht muss man auf sich wirken lassen. Ein Bild muss man länger anschauen als 1,5 Sekunden,
die durchschnittliche Bilddauer auf MTV. Eine Spaßkultur, die sowohl den Ernst verdrängt als auch auf Schnelllebigkeit und geringe Verfallsdauer setzt, ist für die Schule kontraproduktiv. In der
Schule muss man auch erfahren, dass man manches lernt, was seinen Nutzen nicht sofort offenbart, was sich nicht sofort auszahlt.
Die Liebe zur Schule wächst mit dem Quadrat der
Entfernung" - so steht es in einer Bierzeitung des Ratsgymnasiums aus dem Jahre 1921. Das Gehirn verdrängt alle Leidensgeschichten. Die lustigen, die heiteren Unterrichtsstunden, die
außergewöhnlichen Ereignisse und Veranstaltungen bleiben am Besten auf der Festplatte in unserem Gedächtnis gespeichert, insbesondere wenn wir selbst eine wichtige Rolle dabei gespielt haben. Der
Humor ist dabei sicher eine entscheidende Eingabehilfe. Ob freiwillig oder unfreiwillig, der komische Effekt ist im Regelfall gleich groß. Lehrerbeispiel für freiwilligen Humor: "Wer hat hier
künstlerisches Empfinden und ist sportlich und gelenkig? ... Sei mal so nett und putz die Tafel!" Und hier einige Beispiele für unfreiwilligen Humor: Ein Schüler beginnt sein aus dem Internet
abgekupfertes Referat mit den Worten "Ich als Förster meine: ..." Ein Lehrer (schon lange pensioniert) spricht den klassischen Satz: "Don't speak behind the Rücken of your Vordermann". Und den
zweiten klassischen Satz: "What have you eigentlich learned in the nine years?" Auf die Frage nach dem Autor des Romans "Der Zauberberg" gibt ein Schüler die Antwort: Luis Trenker, der Titel der
Ballade, die so beginnt: "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind" - lautet angeblich "Der Ölprinz", und aus dem Kafka-Helden Gregor Samsa im Schülermund ein Gregor Sumsemann. Hoffentlich haben
sich die Schüler hier nicht nur die falsche Antwort gemerkt!
Dass im Spielfilm die Schule fast immer mit Humor
zusammengebracht wird, konnte man gerade wieder erleben. Am Pfingstsonntag liefen im Fernsehen gleich drei Streifen zum Thema, nämlich "Die Lümmel von der ersten Bank", "Hurra, die Schule brennt"
und "Pepe, der Paukerschreck". Mit der Realität haben die tendenziell flachsinnigen Produkte allerdings so wenig zu tun wie Kunstdünger mit Kunst. Aber wem sage ich das, Sie haben ja im
Unterricht Differenzierungs- und Wertungskriterien kennen gelernt, sie kennen die Unterschiede zwischen hoher Literatur, Kabarett und Schwank, anders ausgedrückt: zwischen Komödie, Kom(m)ödchen
und Komödienstadl.
Heute werden Sie nun von dieser Schule
entlassen. "ABI looking for freedom" ist Ihr Motto. Schauen Sie mal in die Plattensammlung Ihrer Eltern, da finden viele von Ihnen sicher eine LP von Janis Joplin oder von Kris Kristofferson mit
dem in unserer Jugendzeit weltbekannten Song "Me and Bobby McGee", und der enthält die schöne Definition: "Freedom's just another word for nothing left to loose." Doch stimmt das nicht so ganz,
denn Sie lassen hier viele Erinnerungen zurück. Unsere besten Wünsche begleiten Sie. Engagieren Sie sich weiterhin für die Gemeinschaft, wie Sie es am Ratsgymnasium in vielfältiger und das
Schulleben bereichernder Weise getan haben, in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG - wofür ich Ihnen herzlich danken möchte. Gehen Sie
vorwärts und aufwärts. Lernen Sie Ihr Leben lang weiter mit Lust und Spaß, verlieren Sie nicht Ihren Humor, aber befolgen Sie nicht unbedingt Woody Allens Rat: "Lieber einen guten Freund
verlieren als auf eine gute Pointe verzichten!" Und vergessen Sie bei all Ihren Plänen, Zielen und Beziehungen zu anderen Menschen nicht den Satz des berühmten Schauspielers und Komikers Theo
Lingen, dessen 100. Geburtstag wir in diesem Juni feiern, der in der Uraufführung der "Physiker" 1962 den Einstein und in den vorhin genannten Paukerfilmen den näselnden Direktor gespielt hat:
"Es gibt immer ein Stückchen Welt, das man verbessern kann - sich selbst."