MANFRED LAUFFS

Rede zu Verabschiedung der Abiturientia 2008 (21.6.2008)

 

BILDUNG

 

 

Liebe Eltern,

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

„Also lautet ein Beschluss: / Dass der Mensch was lernen muss. / - Nicht allein das ABC / bringt den Menschen in die Höh’; / Nicht allein im Schreiben, Lesen / Übt sich ein vernünftig Wesen; / Nicht allein in Rechnungssachen / Soll der Mensch sich Mühe machen; / Sondern auch der Weisheit Lehren / Muss man mit Vergnügen hören!“

Sie alle kennen diese Verse aus dem Vierten Streich von „Max und Moritz“, der eine oder andere vielleicht sogar auswendig, und Sie alle haben den besagten Beschluss befolgt. Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, haben die Schulzeit nun hinter sich, und ich gratuliere Ihnen herzlich zum Abitur, Sie haben es mit Bravour bestanden! Die Erfolgsquote ist fast 100%, nur eine Schülerin muss am Mittwoch noch in die Nachprüfung, und wir drücken alle die Daumen, dass sie es auch schafft!

 

Abgesehen vom letzten Satz, begann genauso meine Abiturrede vor einem Jahr. 2007 feierten wir Wilhelm Buschs 175. Geburtstag, 2008 gedenken wir seines 100. Todestages. Ich habe vor einem Jahr die Idee verkündet, ich könnte dieselbe Rede noch einmal halten. Aber keine Angst! Es sitzen zu viele Damen und Herren im Saal, die ich langweilen würde, weil sie auch letztes Jahr hier saßen, und so habe ich die Idee wieder verworfen. Bevor ich aber einige Worte zum Thema „Bildung“ sagen werde, möchte ich unsere Gäste begrüßen.

 

Herzlich willkommen heiße ich Herrn Bürgermeister Roland, Herrn Dr. Andriske, unseren Schuldezernenten, und Frau Landmesser als Vorsitzende der Schulpflegschaft und stolze Mutter eines Abiturienten, sowie ihre Stellvertreter, Frau Werring und Herrn Bösch, ebenso Christin Keßen, unsere engagierte Schülersprecherin! Ich freue mich ferner über die Anwesenheit von Frau Rietkötter, der Vorsitzenden des Fördervereins, sowie ihres Stellvertreters und unseres ehemaligen Schulleiters, Herrn OStD a.D. Schulteis. Herzlich willkommen auch Pfarrer Müller von der Johannesgemeinde! Ich begrüße mit Freude Herrn Berger vom Vorstand des Ehemaligenvereins, er hat Ihnen als Geschenk das Organ des Ehemaligenvereins, die „Heftklammer“, auf den Stuhl gelegt, ein Mitgliedsantrag ist dabei, und Sie bekommen Ihr Zeugnis heute nur, wenn Sie den unterzeichnen!  Herzlich willkommen ist auch Frau Groß-Albenhausen, die ehemalige Vorsitzende des Schulausschusses, die dem Ratsgymnasium weiterhin freundschaftlich verbunden ist! Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige Schüler eingeladen: Von den Goldabiturienten ist anwesend Herr Tillmann, mehrere Klassenkameraden sind mitgekommen. Vom Abijahrgang 1983 ist Herr Kateloe gekommen, er spielte damals auf dieser Bühne die Hauptrolle in dem Stück „Der Tag, an dem der Papst gekidnappt wurde“ - herzlich willkommen!

 

Ferner begrüße ich Sie, meine verehrten Eltern. Ich gratuliere auch Ihnen und sage Ihnen herzlichen Dank, denn auch Sie haben - in vertrauensvoller Zusammenarbeit  mit uns Lehrerinnen und Lehrern - dafür gesorgt, dass Ihre Kinder erzogen und gebildet wurden, und zugleich aufopfernd das Fünf-Sterne-Hotel „Bei Mama und Papa“ betrieben, nebst hauseigener Taxizentrale.

 

Last but not least begrüße ich Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Sie wieder einmal mit großem Engagement und - wenn man der Abizeitung glauben darf - ebenso großen Kuchentabletts einen Jahrgang erfolgreich zum Abitur geführt haben. Ganz herzlichen Dank Ihnen allen, besonders dem Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Schmidt, und dem Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Brüninghoff!

 

Ein kluger Mensch hat folgende herbe Kritik geäußert: „Unsere Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute widersprechen den Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, legen die Beine übereinander und tyrannisieren die Lehrer.“ Es war der Philosoph Sokrates, der so sprach. Vor 2500 Jahren. Damit ist die realistische Aussagekraft der Kritik meines Erachtens arg zu relativieren. Aber welche Einfluss hatte die Schule auf Sie, liebe Abiturienten, zu Deutsch: liebe „Weggehende“?

Jedes Mal, wenn eine Abiturientia verabschiedet wird, kommt man als Lehrer unwillkürlich dazu, über den eigenen Beruf und seine Wirksamkeit oder Machtlosigkeit nachzudenken. Die Gesellschaft stellt an diesen Beruf durchaus widersprüchliche Anforderungen: „Gerecht soll er sein, der Lehrer“, schrieb Prof. Müller-Limmroth in der Zürcher Weltwoche, „und zugleich menschlich und nachsichtig. Straff soll er führen, doch taktvoll auf jedes Kind eingehen, Begabungen wecken, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und Aids-Aufklärung betreiben, auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei hochbegabte Schüler gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie begriffsstutzige. Mit einem Wort: Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen und zwar so, dass alle bei bester Laune und an drei verschiedenen Zielorten ankommen“. Ich hoffe, wir haben das einigermaßen bei Ihnen geschafft! Wie steht es aber allgemein in Deutschland um die Bildung, die an den Schulen vermittelt werden soll? In der Einleitung seines Buches „Bildung – alles was man wissen muss“ zieht Prof. Dietrich Schwanitz eine vernichtende Bilanz. In Deutschland sei die Bildung zu einem Schattenreich geworden. Verantwortlich dafür seien der Kulturföderalismus der Länder und die Politiker, die die Ansprüche immer mehr gesenkt hätten. Immer neue Modelle würden durchgespielt, es herrschten die drei Monster Verunsicherung, Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit. Die Normen seien zusammengebrochen. Aber die Verachtung gegenüber dem Lehrerberuf sei ungerecht, einem Job, den selbst ein gewiefter Manager kaum einen Morgen lang durchstehen würde, ohne an Flucht zu denken: nämlich eine Horde lernunwilliger, ungezogener, an Fernsehunterhaltung gewöhnter Bestien für die Erhabenheit des deutschen Idealismus zu interessieren, während diese – unverschämt und sadistisch – nichts anderes im Sinne haben, als Attacken auf die Würde der Lehrer zu organisieren. Und dann werde ihnen auch noch die Schuld gegeben, weil sie die Kids mit Goethes „Iphigenie“ nicht antörnen könnten.

 

Meine Damen und Herren, klingt das nicht wieder nach Sokrates? Ich frage mich, ob dieses Horrorbild der Wirklichkeit entspricht. Immerhin schreibt Schwanitz: „Das heißt nicht, dass es nicht hie und da funktionierende Schulen, engagierte Direktoren und erfolgreiche Lehrer und halbwegs glückliche Schüler gäbe.“ Ich würde gern vermuten, er schrieb das kurz nach seinem Besuch im Ratsgymnasium im Februar 1999! Aber auch wenn wir zu den Ausnahmen gehören, hat Schwanitz in seinem Buch sicher den wichtigen Versuch  unternommen, einmal einen Gesamtüberblick zu geben über das, was man wirklich wissen sollte, um als gebildet zu gelten.

 

Das Buch von Schwanitz stand lange auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, an Bildung scheint trotz aller Unkenrufe ein Rieseninteresse zu bestehen. Am Ratsgymnasium haben Sie vieles von dem gelernt und kennen gelernt, was im Buch von Schwanitz genannt wird, längst nicht alles, aber man lernt ja nie aus, Sie haben das Lernen gelernt und auch das selbstständige Denken. Sie haben die so genannten „Kompetenzen für morgen“ erworben: auf einer breiten Wissens- und Erfahrungsbasis können Sie selbstständig Aufgaben übernehmen und Probleme lösen, keiner von Ihnen  würde auf die Frage: „Wie viel ist 23 x 26?“ antworten: „Da nehm’ ich den Publikums-Joker!“ Zugleich hat Ihnen die Schule – im Zusammenwirken mit den Familien und dem übrigen gesellschaftlichen Umfeld – soziale Kompetenzen vermittelt, wie Teamfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Solidarität, Konfliktbewältigung. Und auch die Wertorientierung in der Vermittlung kultureller Kompetenzen war ein wesentlicher Teil unserer Bemühungen.

 

In dem Buch „Die Asche meiner Mutter“, dem großen Bestsellererfolg am Ende des vergangenen Jahrhunderts, beschreibt der Autor Frank McCourt auf rührende, zugleich erschütternde und verblüffend witzige Weise seine Kindheit in Irland. Einmal lässt er einen Schulleiter sprechen, der mir sehr sympathisch ist. „Mr. O’Halloran kann nicht lügen. Er ist der Schulleiter. (...) Er sagt, ihr müsst studieren und lernen, damit ihr in Geschichte und allem anderen Euren eigenen Kopf habt, und was nützt es, einen eigenen Kopf zu haben, wenn der Kopf leer ist? Richtet euren Kopf ein. Richtet euren Kopf ein. Er ist eure Schatzkammer, und niemand auf der Welt kann sich da einmischen. Wenn ihr im irischen Pferdelotto gewonnen hättet, und ihr hättet euch ein Haus gekauft, würdet ihr es mit Scherben, Schrott und Unrat füllen? Euer Kopf ist euer Haus, und wenn ihr ihn mit Unrat aus den Kinos füllt, wird euer Kopf vergammeln. Ihr mögt arm sein, Eure Schuhe mögen kaputt sein, aber euer Kopf ist ein Palast.“ Die Lehre Mr. O’Hallorans können Sie im wahrsten Sinne des Wortes beherzigen: Gebrauchen Sie Ihren Kopf, Ihren Palast, Ihren Verstand, aber auch Ihr Herz! Man kann dasselbe auch ironisch ausdrücken wie Loriot, der in einer wunderbaren Rede für neuimmatrikulierte Studenten an der Freien Universität Berlin sagte: „Vor allem sollte genügend Zeit zum Fernsehen bleiben. Die Universitäten neigen dazu, durch ein überreichliches Arbeitspensum das geregelte Fernsehen zu erschweren. Ihr aber solltet nicht nachlassen, vor allem die Werbung intensiv zu verfolgen, die ja leider alle paar Minuten durch unverständliche Spielfilme unterbrochen wird. Dann wisst ihr, was unser Leben so glücklich macht: nicht Wissen, nicht Bildung, nicht Kunst und Kultur, ... nein, nein...es ist der echte Kokosriegel mit Knusperkruste, die sanfte Farbspülung für den Kuschelpullover und der Mittelklassewagen für die ganze glückliche Familie mit Urlaubsgepäck und Platz für ein Nilpferd.“

 

Gestatten Sie mir noch einen kurzen Ausblick: Wie sieht es mit der Bildung in Zukunft aus? Das klassische Eintrichtern des Lernstoffes ist vorbei. Früher stellte vorne der Lehrer Fragen, um Kinder an die Lösung zu führen, er betrieb eine „Osterhasenpädagogik“: Ich weiß die einzige Lösung, aber ich verstecke mein Wissen. Heute aber wissen wir: Menschen lernen am besten, wenn sie selbst Fragen stellen und Neugierpotenzial entwickeln. Der Zukunftsforscher Matthias Horx beschreibt unter der Überschrift „Megatrend Bildung - Die neue Lernkultur“ die aktuellen Entwicklungen: Selbstgestaltung, permanente Innovation, Alltagskreativität. Wir und unsere Kinder brauchen - so Horx – „breites Weltwissen, Eigenständigkeit und Selbstkompetenz, Teamfähigkeit,  emotionale Intelligenz.“ Im Bildungssystem der Humanorientierung lautet die Devise: „Werde du selbst!“ Bildung wird dann von einer „Status-Zuschreibung zur Lebensform, zum dynamischen Moment in der eigenen Biographie“. Ich denke, das Ratsgymnasium stellt sich diesen Herausforderungen und ist schon jetzt, wie Horx fordert, „eine Bühne des Lebens“, auf der eine „Pädagogik der Neugier“ und eine „Kultur des Vertrauens“ herrschen.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, vielleicht ist Bildung – wie Lord Halifax meinte – nur das, was übrig bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben. Auf jeden Fall ist sie – so Prof. Schwanitz - „ein Stil der Kommunikation, durch die Verständigung zwischen Menschen zum Genuss wird. Kurzum: Sie ist die Form, in der Geist, Fleisch und Kultur zur Person werden und sich im Spiegel der anderen reflektieren.“ Benutzen und verwerten Sie Ihre Bildung in diesem Sinne. Sorgen Sie lebenslang – auch nach der beruflichen Ausbildung – für Ihre Bildung, Fortbildung und Herzensbildung. Und für die Ihrer Kinder. Die Anmeldetermine am Ratsgymnasium entnehmen Sie bitte in zwölf bis zwanzig Jahren der örtlichen Presse! Denken Sie an den Satz von Heinrich Heine: „Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt“.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ich weiß, dass in Ihrer Generation eine große Kreativität herrscht, dass Sie neue Ideen haben und unkonventionell denken. Sie buchstabieren das Wort Team nicht so: „Toll, ein anderer macht’s!“ Sie haben auch in der Vorbereitung der verschiedenen Abitur-Festivitäten ausgezeichnet  zusammengearbeitet. Und ich lese mit Staunen in der Abizeitung, wie viel Zeit neben den Abiturvorbereitungen blieb für chatten, simsen, zappen, switchen, downloaden und upgraden, für Competitions mit Putten und Handicap, für Centerparks, Subway-Cookies, Chips und YouTube, für Smalltalk und Allroundgespräche, Burger King und Tanz-Crash-Kurse, Soulsessions und Snowboarden, Hiphop und Simpsons, chillen im Corner, shoppen und cruisen, Footloose, Bowling, Jogging, Coaching und Dancing! Sie sind auch eine dankbare Generation, das sieht man an den ca. 4500 Danksagungen  in der Abizeitung. Sie gelten z.B. dem Rats, „der besten Schule der Welt“, der „Oma fürs Kerzeanzünden, auch wenn es nicht immer was gebracht hat“, ferner wird gedankt für souveräne Stufenleitung, top vorbereitete Sowistunden,  für die „Unterhaltung“, die das Rats geboten hat (z.B. „in Form von Herrn Hoenig“), für Freundschaften, Unterstützung durch „Mom“ und „Dad“, für Goetheabende mit tollen Gesprächen, für „geile Theaterzeit“, für aufbauende Telefonate, für „du weißt schon wofür“ und für Beziehungen „auf nicht sexueller Basis“. Hauptsache, die Events waren easy und die Crew war cool!

 

Ich danke Ihnen für Ihr vielfältiges Engagement, das unser Schulleben immer wieder bereichert hat, von der politischen Arbeit in der SV und die Mentorentätigkeit über die journalistische Aktivität in der Schülerzeitung RATSIA, Ihre Siege in künstlerischen Wettbewerben und Sportwettkämpfen, die Mithilfe bei der Gestaltung des Schulgebäudes und Ihre Gastfreundschaft gegenüber ausländischen Besuchern bis zur Mitwirkung in den vielen schönen Theaterstücken und Schulkonzerten. Dies alles verdient Dank und Anerkennung. Daher meine Bitte und mein Rat: Machen Sie in diesem Sinne weiter. Engagieren Sie sich in einer politischen Organisation, nehmen Sie teil am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, tun Sie mehr, als der Beruf von Ihnen verlangt. Es wird sich auszahlen, obwohl es unbezahlbar ist, und zwar in einem Plus an Anerkennung und Lebensfreude.

 

Und kommen Sie manchmal an die Schule zurück, damit wir erfahren, für welche Erfolge wir die Grundlagen gelegt haben. Ihre Anglizismen haben mich schon angesteckt: Back to the roots, back to the RATS!