MANFRED LAUFFS

Rede zu Verabschiedung der Abiturientia 2002 (22.6.2002)

 

DER ZUFALL

 

Liebe Eltern,

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Der englische Dramatiker John Boynton Priestley berichtete seinem Freund Arthur Koestler, nach der Lektüre von dessen Buch „Die Wurzeln des Zufalls“, in einem Brief von einem ganz merkwürdigen Ereignis: „Mein Frau kaufte drei große Farblithographien von Graham Sutherland. Als sie bei uns in London eintrafen, nahm sie die Bilder mit in ihr Schlafzimmer, um sie am nächsten Morgen aufzuhängen. Sie standen gegen einen Stuhl gelehnt, und das äußerste der drei Bilder, dessen Schauseite dem Raum zugewandt war, zeigte eine Heuschrecke. Als meine Frau an jenem Abend schlafen ging, hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, etwas bewege sich in ihrem Bett. Darum stand sie auf und schlug die Decke zurück. Im Bett saß eine Heuschrecke. Noch niemals zuvor war in diesem Zimmer eine Heuschrecke gesehen worden, und auch später ist das nicht wieder vorgekommen. Im ganzen Haus ist weder vorher noch später je eine Heuschrecke gesehen worden.“ Einen ähnlich unwahrscheinlichen Zufall habe auch ich selbst erlebt, und ich schwöre, dass es so passiert ist: Im Sommersemester 1970 saßen wir im Germanistikseminar der Universität Freiburg. Es war sonnig und heiß. Der Dozent gab die Mittelhochdeutschklausuren zurück und sagte, da er wohl nicht sehr zufrieden war: „Wenn einige von Ihnen bis zum Ende des Semesters nicht fleißiger arbeiten, sehe ich für Ihre Abschlussnoten schwarz!“ Eine Sekunde später schlossen sich – zentral gesteuert – die Sonnenschutzlamellen vor den Fenstern vollständig, es war stockdunkel im Raum - bis sich nach einigen Augenblicken die Lamellen querstellten und das übliche gedämpfte Licht gaben. Ein geradezu metaphorischer Zufall, dessen Wirkung zunächst Stille und dann eine Art unsicheres Lachen hervorrief.

 

Ihr Abitur fällt zufällig in das Jahr 2002, eine Zahl, die sich spiegelbildlich -  z.B. auf T-Shirts - darstellen lässt. Wenn so etwas das nächste Mal passiert, wird es keiner von uns mehr erleben – die Abiturfeier 2112. Interessant wär’s schon, vielleicht wird dann das Abiturzeugnis, wie Herr Rüther schon länger prognostiziert, mit der Geburtsurkunde ausgehändigt. Aber so weit sind wir noch nicht, Sie haben das Abitur aus eigener Kraft geschafft, abgesehen vom Doping durch Kaffee, Tee, Eis und Pizza,  und dazu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich im Namen der Ratsfamilie! Unsere Sekretärin erinnerte sich vorgestern während des Abischerzes an die Anmeldung vor neun Jahren. Der kleine Christian Springer reichte schüchtern sein Grundschulzeugnis über die Theke und bat sie, doch einmal einen Blick auf die Noten zu werfen. Ob sie meine, dass er damit das Abi schaffen könne. Sie meinte: ja, und sie hat Recht gehabt! Heute ist die Sternstunde für ihn und die anderen hier anwesenden RATS-STARS, denn sie alle haben die Reifeprüfung mit Bravour bestanden. 

 

Bevor ich zu meinem heutigen Thema „Zufall“ zurückkehre, darf ich zunächst unsere Gäste begrüßen. Herzlich willkommen heiße ich Frau Stellvertretende Bürgermeisterin Maria Seifert, Frau Bärbel Rietkötter als Vorsitzende der Schulpflegschaft und des Fördervereins, Herrn Pfarrer Berger als Vertreter der Kirchen und Johanna Hildebrandt, unsere Schülersprecherin. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

 

Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige Schüler eingeladen: Vor 50 Jahren hat Herr Kruse sein Abitur gemacht, und vom Abijahrgang 1977 sind eine ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern gekommen - ihr Sprecher ist Fritz Priebe. Herzlich willkommen am Ratsgymnasium! Der prominenteste Abiturient von 1952 kann heute leider aus wichtigen familiären Gründen nicht anwesend sein, es ist mein Vorgänger, Herr Schulteis. Er lässt Sie herzlich grüßen und wünscht Ihnen Glück und Erfolg auf Ihrem  Weg, den Sie – ich zitiere aus seinem Brief - „zielbewusst, konsequent, mutig und zuversichtlich gehen mögen, wohl wissend, dass man nicht bloß Zuschauer, sondern stets aktiv auch Handelnder sein sollte.“

 

Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn wenn Sie Ihre Kinder nicht zur Welt gebracht, vor Kälte geschützt, mit gesunder mitteleuropäischer Kost ernährt, mit Bildung gefüttert und mit unerbittlichen erzieherischen Maßnahmen geformt hätten (etwa: Heute machst du dir kein Abendbrot, heute machst du dir Gedanken!)  - ja dann säßen diese Ihre Kinder nicht hier und bekämen nicht in ca. einer halben Stunde das entscheidende Zeugnis in die Hand gedrückt.

 

Herzlich begrüße ich auch meine Kolleginnen und Kollegen, die Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auf dem oft steinigen Weg von Klasse 5 bis Klasse 13 begleitet haben. Sie alle haben daran mitgearbeitet, Ihnen das Wissen und die Bildung zu vermitteln, die nötig sind, um die mit dem Abitur verbundenen Qualifikationen zu erlangen. Stellvertretend nenne ich Ihren Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Hans-Peter Jansen, und den Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt!

 

Der Zufall, meine Damen und Herren, hat die Menschheit immer wieder beschäftigt, der unglückliche wie der glückliche. Für die Wissenschaftstheorie stellt sich das Problem, das Zustandekommen des Zufalls zu erklären. Denn viele der Gesetze, die das Verhalten der elementaren Bausteine der Materie beschreiben, kennen keinen Zufall, nur die Notwendigkeit. So wird der Zufall bei Marx und Engels als „Schnittpunkt zweier Notwendigkeiten“ erklärt. Was sich uns als Zufall darstellt, ist offenbar eine Verkettung von bekannten oder ungenügend bekannten Ursachen und ebensolchen Wirkungen. Besonders aufdringlich erscheint in unserem Leben das Problem, wenn wir an die Begegnung zweier Menschen denken, woraus sich zukunftsreiche Folgen ergeben. Man könnte den Gedanken hegen, dass bei kleinen Abweichungen im vorausgegangenen Verhalten die Begegnung ganz sicher nicht zustande gekommen wäre, dennoch glaubt man, dass man doch irgendwie sinnvoll zueinander geführt wurde. Je weiter man darüber nachdenkt, desto mehr kann man in einen Schwindel geraten. Auch die Evolution des Lebens auf unserem Planeten kann als Zufall der angesehen werden, ja die Entstehung des Planeten Erde selber oder unsere ganz persönliche Existenz, denn nur einer von mehreren Hundert Millionen Samenfäden hat sein Ziel erreicht, warum nicht einer der Konkurrenten ? Aber schließlich kann immer nur einer Weltmeister werden!

Zufall oder Schicksal? Ist Schicksal nichts anderes als reiner Zufall, oder ist es vorherbestimmt? "Gott würfelt nicht", meinte Albert Einstein und plädierte für eine rational begründbare, kausale, gesetzmäßige Ordnung der Welt. Gewürfelt wiederum wurde von Mathematikern, und das Resultat war die Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit der sie den Zufall in den Griff bekommen wollten. Sechs Richtige im Lotto zu tippen ist, statistisch gesehen, völlig aussichtslos. Andererseits: Jeder Jackpot wird mit Sicherheit irgendwann geknackt.

Die Literatur hat sich immer wieder mit dem Phänomen des Zufalls befasst. Der Marquis Posa in Schillers Drama „Don Carlos“ sagt: „Den Zufall gibt die Vorsehung – zum Zwecke / muss ihn der Mensch gestalten“ – was ja bedeutet, dass es nachlässig wäre, sich dem blinden Zufall anzuvertrauen, und angeraten, aus dem Zufall etwas Sinnvolles zu machen. Der Philosoph Herder sah die Macht, die Gefährlichkeit und die Ungerechtigkeit des Zufalls, als er schrieb: „Die zwei größten Tyrannen der Erde: der Zufall und die Zeit.“ Man denkt dabei an die vielen Unglücke auf der Welt, etwa daran, dass zum Zeitpunkt des Attentats auf das World Trade Center zufällig Tausende von Menschen Opfer des Verbrechens wurden, viele andere zufällig nicht. Gläubige Menschen sehen im Lauf der Welt Gottes Fügung am Werk, die Gräfin Orsina in Lessings Schauspiel „Emilia Galotti“ sagt: „Das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall“. Aber können wir glauben, dass z. B. der Tod am 11. September eine Notwendigkeit in Gottes Weltmechanismus war? Eine entscheidende Rolle spielt der Zufall in Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“, die der Theaterkreis zum 25jährigen Jubiläum wieder aufgeführt hat. Möbius’ Plan, seine menschheitsbedrohende Erfindung im Irrenhaus geheim zu halten, hätte funktioniert, wenn die Irrenärztin nicht zufällig selber wahnsinnig wäre. Und so erläutert Dürrenmatt in seinen 21 Punkten zu den „Physikern“: „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht vorhersehbar. Sie tritt durch Zufall ein. ... Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.“ In Tom Tykwers Film „Lola rennt“ wird der Zufall zum Hauptthema: indem dieselbe Handlung dreimal mit unterschiedlichem Verlauf durchgespielt wird, erweist sich, wie geringe zeitliche Verschiebungen von Ereignissen über Leben und Tod, Erfolg oder Misserfolg, Lottogewinn oder Drogensucht entscheiden.

 

Und wie viele Erfindungen verdanken sich dem Zufall! Am bekanntesten ist die Geschichte von Newton und der Entdeckung des Gesetzes der Schwerkraft. Als er in seinem Garten spazieren ging, sei zufällig ein Apfel vom Baum gefallen – und blitzartig sei ihm die Erkenntnis gekommen, dass es ein und dieselbe universale Kraft sein müsse, die den Apfel zur Erde zieht und die Planeten um die Sonne kreisen lässt. Gut erfunden vielleicht. Der geniale Newton selbst hat anders geantwortet, wie er zu dem Gesetz gekommen sei: „Day and night thinking!“ Erkenntnisse können blitzartig kommen, aber niemals völlig zufällig. Der Apfelfall geschah in dem Augenblick, als der Gedankenschluss reif war.

Dagegen sind die merkwürdigen Zufälle des Alttagslebens harmlos, dennoch aber immer wieder spannend. Vor zwei Wochen spreche ich mit meiner Frau darüber, dass wir mal wieder öfter Rad fahren sollten, Bewegung ist ja wichtig, sagt nicht nur der Arzt der deutschen Fußballnationalmannschaft. Dabei gehe ich an meinem Bücherregal entlang, greife wirklich völlig willkürlich nach irgendeinem Buch in Augenhöhe, es sind Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ von 1851, schlage irgendeine Seite auf, es ist rein zufällig die Seite 33, und da steht: „Folglich sollten wir vor Allem bestrebt seyn, uns den hohen Grad vollkommener Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüthe die Heiterkeit sich einstellt. Die Mittel hierzu sind ... täglich zwey Stunden rascher Bewegung in frischer Luft. ... Im ganzen Inneren des Organismus herrscht unaufhörliche und rasche Bewegung: das Herz schlägt ... die Lunge pumpt .. die Drüsen saugen ...Wenn die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so entsteht ein schreiendes ... Missverständnis zwischen der äußeren Unruhe und dem inneren Tumult.“ Das ist schon unheimlich. Während derjenige, der sein Flugzeug verpasst, das danach abstürzt, glauben  kann, Gott oder der Zufall oder die Vorsehung oder die Fügung habe ihn gerettet, fragt man sich andererseits, was die Vorsehung veranlassen sollte, eine Heuschrecke in Mrs. Priestleys Bett zu stecken oder mich ein bestimmtes Buch greifen zu lassen. Koestler schreibt: „Noch niemals hat jemand, soviel ich weiß, bei der Vorsehung Sinn für Humor entdeckt.“ Aber den Tipp mit der täglichen Bewegung gebe ich gern an Sie weiter.

Ich komme zum Schluss: Es ist ein glücklicher Zufall, dass wir hier und heute zusammen sind, und Sie alle haben heute Grund, besonders glücklich zu sein. Machen Sie etwas aus Ihrem Glück, nehmen Sie die Zufälle ihrer Existenz, Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihre Lehrer, Ihre Begegnungen an der Universität und im Beruf, als Gegebenheiten und Chancen und arbeiten Sie weiter an sich – denn Glück hat, wie das Sprichwort sagt, auf die Dauer nur der Tüchtige!

Unsere besten Wünsche begleiten Sie. Wir erwarten viel von Ihnen! Engagieren Sie sich weiterhin für die Gemeinschaft, wie Sie es am Ratsgymnasium in vielfältiger und das Schulleben bereichernder Weise getan haben, in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG – wofür ich Ihnen herzlich danken möchte. Bereiten Sie bei den Bundestagswahlen, an denen Sie zum ersten Mal teilnehmen dürfen, einer Partei eine entscheidende Niederlage: der Partei der Nichtwähler! Denken und kommen Sie dann und wann zurück, damit wir erfahren, welche tollen Karrieren Sie gemacht haben, nicht zufällig, denn Sie waren ja am Ratsgymnasium! Und vergessen Sie bei all Ihren Plänen, Zielen und Beziehungen zu anderen Menschen nicht den Satz des Weisen Konfuzius, den der vor 125 Jahren geborene und vor 40 Jahren gestorbene Hermann Hesse gern zitierte: „Das Wichtigste: Treue zu sich selbst. Güte gegenüber den anderen.“