Manfre Lauffs

Rede zur Verabschiedung der Abiturientia 1999 (12.6.1999)

Thema: Johann Wolfgang von Goethe

 

Liebe Eltern,

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

„Dann war ich auf Goethe gekommen, auf den Großbürger Goethe, den sich die Deutschen zum Dichterfürsten zugeschnitten und zugeschneidert haben, (...) auf Goethe, den philosophischen Kleinbürger, den Lebensopportunisten, der die Welt nicht auf den Kopf gestellt, sondern den Kopf in den deutschen Schrebergarten gesteckt hat. Auf Goethe, (...) den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat in ihre Haushaltsgläser für alle Fälle und alle Zwecke, (...) der den Deutschen die Binsenweisheiten gebündelt und als allerhöchstes Geistesgut hat verkaufen und durch die Oberlehrer in ihre Ohren hat schmieren lassen, bis zur endgültigen Verstopfung. (...) In nichts hat Goethe das Höchste geleistet, (...) seine Theaterstücke sind gegen die Stücke Shakespeares beispielsweise so gegeneinander zu stellen wie ein hochgewachsener Schweizer Sennenhund gegen einen verkümmerten Frankfurter Vorstadtdackel. (...) Goethe ist der Totengräber des deutschen Geistes.“

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wer so beschimpft wird wie Goethe in diesem Auszug aus dem Roman „Auslöschung“ von Thomas Bernhard (erschienen 1986), an dem muss etwas dran sein, das unser Interesse erwecken kann!

Sie haben die Reifeprüfung bestanden, dazu beglückwünsche ich Sie im Namen aller Anwesenden von Herzen. Meine Abschiedsrede für Sie soll sich mit Goethe befassen, dem weltbekannten deutschen Dichter, dessen 250. Geburtstag wir in demselben Jahr feiern wie Ihr Abitur.

 

Doch zunächst darf ich unsere Gäste begrüßen. Sie sehen an ihrer großen Zahl, welch ein wichtiges Ereignis Ihr Abitur innerhalb der Schulfamilie, aber auch in unserer Stadt darstellt. Herzlich willkommen heiße ich Frau Stellvertretende Bürgermeisterin Maria Seifert, den Kulturdezernenten, Herrn Dr. Andriske, Frau Bärbel Rietkötter, die Vorsitzende der Schulpflegschaft, Herrn Oberstudiendirektor a.D. Hans-Wilhelm Schulteis, den 2. Vorsitzenden des Fördervereins, und den Schülersprecher Colin Kaniyampalackal. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

 

Nach alter Tradition haben wir wieder zwei ehemalige Schüler eingeladen: der Goldjubilar heißt passenderweise Dr. Gold, er hat vor 50 Jahren sein Abitur gemacht, der Silberjubilar ist Herr Steinmann vom Abijahrgang 1974. Herzlich willkommen an der alten Schule!

 

Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, die Sie unsere Abiturientinnen und Abiturienten erzogen und gebildet haben, mit Geduld und Liebe, mit Rat und Tat, eher mit Zuckerbrot als mit der Peitsche, und das in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Lehrerkollegium.

Nicht zuletzt begrüße ich Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Sie mit großem Engagement diesen Jahrgang erfolgreich zum Abitur geführt haben. Herzlichen Dank Ihnen allen, besonders dem Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Georg Hoppe!

 

Doch nun zu meinem speziellen Thema: Goethe in der Schule!

Welche Rolle spielt er dort eigentlich heutzutage? Ein weites Feld! Die Literatur über Goethe füllt endlose Bücherregale, Karteikästen, Mikrofilme und Disketten. Der Dichterfürst wird in diesem Jahr wieder landauf landab in Hunderten von Veranstaltungen gefeiert auf Mephisto komm heraus. Aber wer liest überhaupt Goethe? „Geben Sie mir drei Meter Goethe und zwei Meter Schiller“ sagt Frau Neureich zum Buchhändler, „und dann noch etwas zu lesen!“ Vor Jahren ergab eine Umfrage zum Leseverhalten der Deutschen, dass Lyrik und klassische Literatur auf Platz 31 und 32 der Rangliste stehen und nur je 6 % der Bevölkerung erreichen. Aber einerseits sind die Klagen über die mangelnde Leselust so alt wie die Literatur selbst. In der Walpurgisnacht in „Faust I“ lässt Goethe die Figur des Autors sagen: „Wer mag wohl überhaupt jetzt eine Schrift / von mäßig klugem Inhalt lesen / und was das liebe junge Volk betrifft / das ist noch nie so naseweis gewesen.“ Auf der anderen Seite sieht man, dass seit einigen Jahren Klassik im Klassenzimmer wieder „in“ ist, dass Schüler von sich aus den „Faust“ oder „Die Räuber“ erarbeiten wollen, weil sie neugierig sind auf das, worüber sie immer wieder hören oder lesen. Grundsätzlich sind sich die heutigen Deutschlehrer, Schüler und Eltern darüber einig: Die Klassiker gehören in den Unterricht, nicht nur, sondern auch. Es war ein Irrweg mancher sich progressiv gebender Didaktiker, die Klassiker aus der Schule vertreiben zu wollen. Dichterische Werke veralten ja nicht, sie wandeln sich zwar in ihrer Bedeutung, aber aufgrund ihres Gleichnischarakters und ihres ästhetischen Potentials erscheinen sie den Menschen immer wieder neu, modern und aktualisierbar. Es ist also vielmehr progressiv, die Verbindungslinien zwischen alten und neuen Werken aufzunehmen, Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit zu entwickeln, Traditionen kritisch zu reflektieren und im Sinne von Aufklärung, Humanismus und politischer Bewusstseinsweckung fortzuführen.

 

Was aber wird im Unterricht konkret durchgenommen? Sieht man sich die Listen an, die Wolfgang Leppmann in seinem Buch „Goethe und die Deutschen“ zusammengestellt hat, so staunt man darüber, dass sich im Laufe der Geschichte nur wenig geändert hat. Was vor hundert Jahren als wesentlich, typisch oder unterrichtsgeeignet galt, wird noch heute durchgenommen, natürlich mit anderen Akzenten, didaktischen Absichten und Vermittlungsmethoden. In der Unter- und Mittelstufe sind wie eh und je Balladen beliebt. ( „Erlkönig“ und „Zauberlehrling“). Die Oberstufenschüler beschäftigen sich mit den Gedichten „Prometheus“, „Willkommen und Abschied“, „An den Mond“, „Wandrers Nachtlied“. Von den Dramen stehen „Faust I“ und „Iphigenie auf Tauris“ auf dem Programm, von den epischen Werken „Die Leiden des jungen Werthers“ und seltener „Die Wahlverwandtschaften“. Von den Sachtexten werden gelesen: „Dichtung und Wahrheit“ in Auszügen, „Von deutscher Baukunst“, „Zum Shakespeares-Tag“. Gute Erfahrungen haben laut Umfrage die Deutschlehrer- und -lehrerinnen diese Schule mit dem „Werther“ gemacht, gerade auch im Zusammenhang mit der Lektüre der „Neuen Leiden des jungen W.“, aus der DDR der 70er Jahre; anhand dieses Buches lassen sich anschaulich der Kontrast zwischen Klassik und Gegenwart sowie die Aktuali-tät des Stoffes klarmachen. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung kommt einem allerdings der rote Werther in Bluejeans altmodisch vor und der Goetheheld modern.

 

Die Arbeit mit Goethe im Unterricht sollte gekennzeichnet sein durch Geschichtlichkeit, Emotionalität, Komplexität und Plastizität. Was ist damit gemeint? Geschichtlichkeit bedeutet, dass die Goetheschen Werke historisch-sozial in ihrer Entstehungszeit festzumachen sind, als Selbstverständigung von Autor und Lesern im Zuge der Emanzipation des Bürgertums von feudaler, kirchlicher, ständischer und moralischer Bevormundung. 1974 schreibt Friedrich Tomberg in dem Buch „Von Goethe lernen“: „Das Werk Goethes ist von der philosophischen Erkenntnis durchzogen, dass der Vernunft in dieser irdischen Welt ein Feld zu ihrer Betätigung gegeben ist.“ Damit wiederum ist Goethe höchst aktuell. Es rücken also sowohl das Zeitliche wie das Überzeitliche der Werke in den Blick. Hinzu kommt die Emotionalität. Literatur und Lektüre haben etwas mit Lust und Genuss zu tun, und wer sich von Texten nicht mehr betroffen fühlt, sollte sich fragen lassen, warum er überhaupt noch liest. Vor allem muss der Eindruck vermieden werden, die Werke Goethes seine grundsätzlich etwas Bierernstes. Man kann sich da an Goethe selbst halten. „Die Deutschen“ sagte er am 6.5.1827 zu Eckermann, „sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja auch belehren zu lassen zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen, aber denkt nicht immer, es wäre alles eitel, wenn nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!“ Ein guter Ratschlag für uns alle! Goethe wird im Unterricht lebendig durch Komplexität und Plastizität. Das heißt, Leben und Werk des Dichters werden unter vielen Aspekten und Fragestellungen behandelt, in Referaten, Projekten, Vorträgen, Exkursionen, Videofilmen, CD-ROMs (z.B. mit einem virtuellen Besuch im Goethehaus in Weimar), und nicht zuletzt in Theaterbesuchen. „Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen / probiert ein jeder, was er mag“, sagt der Theaterdirektor in „Faust I“, als meine er die heutigen Starregisseure Peymann, Heyme, Haussmann und Kollegen.

 

Wer hätte im übrigen gedacht, dass man heutzutage mit Goethe noch Anstoß erregen kann? Der Erlkönig wurde 1979 auf den badenwürttembergischen Index gesetzt, das heißt ein Lese-buch, in dem er abgedruckt war, wurde nicht zum Gebrauch zugelassen. Vorwurf: Darstellung von Gewalt! Eine Parodie über Goethes Lebenslauf führte 1980 zu einer erregten Debatte im nordrheinwestfälischen Landtag, weil sie im Deutschunterricht behandelt worden war. Ein recht humorloser Vater hatte Anstoß genommen, als er mit Schrecken zur Kenntnis nahm, was die Schülerinnen und Schüler selbst amüsiert gelesen und als ironische Kritik an einer vulgär-marxistischen Literaturinterpretation verstanden hatten: “Goethe kam am 28.8.1749 in Frank-furt/Main auf die Welt“, so beginnt das „Infopaper“. „Die Stadt war damals noch ungeheuer reaktionär, das Riesenhaus am Großen Hirschgraben hatten die Goethes zum Beispiel nicht besetzt, es gehörte ihnen. Deshalb gefiel es John dort nicht besonders, und er fuhr in die DDR, wo er in Leipzig Jura studierte.“ Besonders erregt hatten den Vater wohl Stellen wie diese: „So schrieb er den „Werther“, in dem er seine Situation schilderte, nur mit dem Unter-schied, dass sein Held sich erschoss, während Goethe hinter anderen Weibern her war.“ Oder: „Mit seinem ganz schön happigen Weinkonsum war Goethe echt drogenabhängig, auch wenn die Art des Stoffs, Opas Alkohol, nicht gerade riesig ist.“

 

Meine Damen und Herren, inwiefern ist Goethe heute noch aktuell in unserer vernetzten In-formationsgesellschaft? Und warum ist die Beschäftigung mit ihm lohnend?

 

Weil Goethes Werke, wie ich schon erwähnte, über ihre Zeit hinausreichen. In der „Iphigenie“ überwindet die lebendige Humanität den toten Mythos. Im „West-östlichen Diwan“, der berühmten Gedichtsammlung, wird versucht, die Weisheit des Orients mit der kühlen Intellektualität des Westens zu versöhnen. „So der Westen wie der Osten / geben Reines dir zu kosten.“ Eine konkrete Utopie auch am Ende unseres Jahrhunderts mit seiner konfliktreichen multikulturellen Wirklichkeit! Im „Zauberlehrling“ werden den Menschen die Folgen ihrer Überheblichkeit gezeigt, und der Satz „Die ich rief, die Geister, /Werd ich nun nicht los“ paßt unheimlich genau auf die Atomkraft, die Gentechnik, die Medienflut, die Entwicklung der Waffenarsenale der Welt.

Schließlich der nie veraltete FAUST, diese Mammutdichtung, in der Goethes Kosmos gipfelt. Sein unersättlicher Erkenntnisdrang macht diesen symbolischen Menschen zum Inbegriff neuzeitlicher Fortschrittshybris. Goethe war dieser Drang nicht fremd, aber als Realist widerstand er ihm. Er wusste, dass wir nie wissen werden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Auch der leistungsstärkste Computer wird uns darüber niemals Auskunft geben. Goethe besaß eine gute Beobachtungsgabe, Geduld in der Anschauung, naturwissenschaftliche Nüchternheit und zugleich die Leidenschaft des kreativen Menschen. Auch das könnte für uns vorbildlich sein, ebenso wie sein großes Interesse für die Verbindung von Kunst und Natur, sein Optimismus, seine Liberalität, sein Weltbürgertum.

 

Natürlich ist Goethe nicht unumstritten. Gerade zur Zeit stellen wir fest, dass der Mythos wankt, nach Veröffentlichung der Studie des amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson, der Goethe vorwirft, im Herzogtum Weimar eine höchst zweifelhafte Rolle gespielt zu haben. Es geht um Unterzeichnung von Todesurteilen, um Verkauf von Landeskindern als Soldaten, um Zensur und Bespitzelung („Schiller, ausgespäht von IM Goethe“ schreibt Tilman Jens höhnisch in seiner Schmähschrift „Goethe und seine Opfer“. „Goethe, als Urvater der Staatssicherheit, als erster Mitarbeiter einer Firma namens Guck und Horch!“)

Ändert das alles etwas an Goethes Werk? Bertolt Brecht war privat ein Scheusal und dennoch ein literarisches Genie. Aber man liest schon, jedenfalls geht es mir so, die Werke ein wenig anders, wenn man das Leben der Autoren kennt.

 

Meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Erich Kästner, das zweite Geburtstagskind dieses Jahres, schrieb genau vor 50 Jahren über das sogenannte Goethe-Derby, den Riesenrummel zum 200. Geburtstag des Dichters: „Es dürfte ziemlich schrecklich werden. Kaufen Sie die herrlichen Goethe-Goldorangen! Der Goethebüs-tenhalter Marke Frau von Stein in jedem Fachgeschäft erhältlich! Goethe-Tropfen halten Sie bis ins hohe Alter jung und elastisch!“ So ähnlich ist es auch dieses Jahr, wie wir alle wissen. Kästner hat recht, wenn er sagt: „Goethe wie er’s verdiente zu feiern, mögen ein einziger Tag oder auch ein ganzes Leben zu kurz sein. Ein Jahr aber ist zu viel.“

 

Feiern Sie ihn also, wann Sie möchten. Vielleicht sagen auch Sie wie ich: „Von Zeit zu Zeit les’ ich den Alten gern.“ Fahren Sie nach Weimar, besuchen Sie aber auch das nebenan gelegene Konzentrationslager Buchenwald, um sich die schwierige Frage zu stellen, wie in diesem Jahrhundert aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Richter und Henker werden konnte. Und nehmen Sie sich die Worte zu Herzen, die in Goethes Gedicht „Vermächtnis“ stehen:

(Sie werden sehen, dass das Haltbarkeitsdatum des Gedichts noch nicht abgelaufen ist)

 

„Genieße mäßig Füll und Segen

Vernunft sei überall zugegen

Wo Leben sich des Lebens freut.

Dann ist Vergangenheit beständig

Das Künftige voraus lebendig

Der Augenblick ist Ewigkeit.“

 

 

Ein "Evangelist" an der Lambertkirche in Münster