Rede

des Schulleiters Manfred Lauffs

zur Verabschiedung der Abiturientia 2006 (17.6.2006)

 

HEINRICH HEINE


Liebe Eltern,

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

„Ich habe sie immer so lieb gehabt, / Die lieben guten Westfalen, / Ein Volk so fest, so sicher, so treu / ganz ohne Gleißen und Prahlen. (...) Der Himmel erhalte dich, wackres Volk, / Er segne deine Saaten, / Bewahre dich vor Krieg und Ruhm, / Vor Helden und Heldentaten. // Er schenke deinen Söhnen stets / Ein sehr gelindes Examen, / Und deine Töchter bringe er hübsch / Unter die Haube – Amen!“

So schrieb der Dichter Heinrich Heine 1844 in seinem Versepos „Deutschland – ein Wintermärchen“, es ist die Beschreibung seiner Reise von Paris nach Hamburg, und die führte auch durch unsere Heimat. Die Frage ist, ob Ihr Examen, Ihre Abiturprüfung, „gelinde“ war, und ob die jungen Damen unter Ihnen alle schnell „unter die Haube“ kommen wollen, zumal heute die angesagte Kopfbedeckung eher die Kappe ist. Aber es handelt sich bei Heine, dessen 150. Todestag wir in diesem Jahr begehen (genau gesagt ist es der 17. Februar), vielleicht um den größten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts, auf jeden Fall um einen großen Satiriker, und insofern sind in seinen Texten immer wieder Ironiesignale angebracht. So gratuliere ich beiden Geschlechtern herzlich zum bestandenen Abitur, das Sie mit Bravour geschafft haben!

Bevor ich darauf eingehe, warum uns der schon so lange tote Dichter Heinrich Heine noch immer interessiert und begeistert, darf ich zunächst unsere Gäste begrüßen, die gekommen sind, um Ihnen zu gratulieren und mit uns zu feiern!

Herzlich willkommen heiße ich Herrn Bürgermeister Ulrich Roland, Frau Landmesser als Vorsitzende der Schulpflegschaft, und Eva Fried, unsere engagierte Schülersprecherin. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit von Herrn Schulteis, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Fördervereins, und ich begrüße Herrn Steffen, den Vorsitzenden des Ehemaligenvereins, er hat Ihnen als Geschenk die Zeitschrift des Ehemaligenvereins, die „Heftklammer“, auf den Stuhl gelegt, ein Mitgliedsantrag ist dabei, und Sie bekommen Ihr Zeugnis heute nur, wenn Sie den unterzeichnen! (Die Zeugnisse, die Sie heute erhalten, sind übrigens  –  anders als in Werne – Originale. Das nebenbei zu Ihrer Beruhigung.) Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige Schüler eingeladen: Von den Goldabiturienten ist anwesend Herr Franz Noll, mehrere Klassenkameraden sind mitgekommen. Vom Abijahrgang 1981 ist Herr Georg Espey gekommen – herzlich willkommen!

Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn Sie haben entscheidend zum Erfolg Ihrer Kinder beigetragen. Sie haben als Experten in Pädagogik und Psychologie eng mit der Schule zusammengearbeitet, den Kindern gratis Kost, Logis, Transport und Therapie geboten, und wie die Mutter Heinrich Heines gehandelt, die ihrem Sohn stets riet, „viel zu lernen und gescheit zu werden“, dann würde man ihn „nie mit einem Esel verwechseln“.

Und last, but not least begrüße ich herzlich auch meine Kolleginnen und Kollegen, die unsere Abiturientinnen und Abiturienten auf dem Weg von Klasse 5 bis Klasse 13 begleitet haben. Sie alle haben daran mitgearbeitet, ihnen das Wissen und die Bildung zu vermitteln, die nötig sind, um die mit dem Abitur verbundenen Qualifikationen zu erlangen. Als Schulleiter bedanke ich mich für das große Engagement des Kollegiums und nenne stellvertretend Ihren Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Hugo Appelhoff, den Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt, und meine Stellvertreterin, Frau Iris Denkler! Ihnen allen war es ein Anliegen, Heines Maxime zu folgen: „Bildung ist Freiheit!“

 

Meine Damen und Herren, Marcel Reich-Ranicki, der berühmte Literaturkritiker der FAZ, ist vor ein paar Tagen 86 Jahre alt geworden. (Ich frage mal in Klammern: Warum gibt es eigentlich für Deutsch-Lk-Mitglieder und andere begeisterte Leser noch nicht den Werbespruch: „Wir sind Literaturpapst“?) Einer seiner Lieblingsautoren, mit dem er sich sein Leben lang immer wieder beschäftigt und über den er viel veröffentlich hat, ist Heinrich Heine.  „Wenn es um Heine ging“, so charakterisiert Reich-Ranicki den Dichter treffend, „wurde in Deutschland seit eh und je scharf geschossen. Ein geborener Provokateur war er und ein ewiger Ruhestörer ... Stets setzte er sich zwischen alle Stühle. Und fast will es scheinen, als sei da immer noch sein Platz. Aber es spricht nicht gegen Heine, dass sein Werk uns immer wieder beunruhigt. Dass es noch ist, was es war: eine Provokation und eine Zumutung.“ Schon zu Lebzeiten war der freche, spöttische Autor verfemt, wurde bekämpft von Monarchisten, frömmelnden Kleinbürgern, nationalen Rauschebärten, reaktionären Burschenschaftlern, klerikalen Ideologen. Seine Waffe war der Witz, sein Schwert war die Feder. Frech, angriffslustig, scharfsinnig und eloquent ging er daran, alte Zöpfe abzuschneiden und die politischen und sozialen Missstände zu attackieren. Er lebte von 1832 bis zu seinem Tode 1856 im Pariser Exil, vertrieben aus seiner Heimat, politisch verfolgt und von der Zensur gegängelt, seine Werke waren in Deutschland verboten. Frankreich war für ihn das Mutterland der Demokratie, begeistert wollte er die Leitgedanken der französischen Revolution FREIHEIT GLEICHHEIT BRÜDERLICHKEIT verbreiten. Zu Unrecht hat man ihn einen „Vaterlandsverächter“ genannt, Heine war ein großer Patriot. Nur nicht im Sinne eines engstirnigen und aggressiven nationalen Egoismus, sondern im Sinne eines modernen Verfassungspatriotismus. Wenn Heine schreibt: „Ich bin ein Sohn der Revolution“, dann meint er das Recht der Freiheit der Person, auf Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung, auf Religions- und Meinungsfreiheit.  „Wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben“, so Heine, „wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan in Gedanken (...) wenn wir das arme, glückenterbte Volk und (...) die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen (...) – ganz Frankreich wird uns alsdann zufallen, ganz Europa, die ganze Welt – die ganze Welt wird deutsch werden! Von dieser Sendung und Universalherrschaft Deutschlands träume ich oft, wenn ich unter Eichen wandle. Das ist mein Patriotismus“. So heißt es im Vorwort zum „Wintermärchen“, aus dem ich schon zu Beginn zitiert habe. Diese grandiose, überaus witzige und völlig modern klingende Satire, in der Heine die Zustände in Deutschland einer radikal-ironischen Kritik unterzieht, hat ihm – war es anders zu erwarten? – den glühenden Hass seiner Gegner eingebracht. Die Schmähungen gipfelten in Formulierungen wie denen des Historikers Heinrich von Treitschke: „den Spottliedern auf Preußen und sein Herrscherhaus fehlte jeder Hauch künstlerischer Anmut, feinen Scherzes; hier erklang nur noch (...) das blödsinnige Wutgeheul jüdischen Hasses.“ Und diese Ablehnung Heines ging noch jahrzehntelang weiter. Im Dritten Reich fielen der so genannten „Reinigung“ der Lesebücher alle seine Werke zum Opfer. Unter seine „Loreley“, die zum populärsten Lied der deutschen Romantik geworden war, setzte man den Vermerk: „Dichter unbekannt“. Die Bücherverbrennung im Mai 1933 war nur ein Auftakt, und prophetisch hatte Heine vorausgesehen: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man Ende auch Menschen.“ Nach dem Krieg war Deutschland ebenso gespalten wie die Heine-Rezeption. Die DDR reklamierte  Heine als „Kämpen der Revolution“ und Freund von Karl Marx für ihr kulturelles „Erbe“ -  und unterschlug dabei gern, dass Heine mit Schaudern an einen Sieg des Kommunismus dachte, in dem aus seinen Gedichtbänden Papiertüten gemacht würden und in dem die „finsteren Bilderstürmer (...) mit ihren schwieligen Händen (...) erbarmungslos alle Marmorstatuen der Schönheit zerbrechen (werden), die meinem Herzen teuer sind“. In der Bundesrepublik tat man sich schwer mit Heine. Im Deutschunterricht und in den germanistischen Universitätsseminaren kam er kaum vor. Ich z.B. habe in der Schule nicht ein einziges Gedicht von ihm gelesen. Erst im Gefolge der Studentenbewegung der 60er Jahre setzte ein neues Interesse ein. Aber zwanzig Jahre lang dauerte der Streit um die Namensgebung der neuen Universität in Heines Geburtsstadt Düsseldorf, erst 1988 bekam sie endgültig den Namen „Heinrich-Heine-Universität“. Heute scheint die Lage entspannter, die Deutschen haben ihren Frieden mit dem „Juden“, dem angeblichen „Deutschenhasser“ gemacht. Oder wie es Marcel Reich-Ranicki formuliert: „Die Wunde Heine, sie vernarbt allmählich, doch auf höchst sonderbare Weise, sie vernarbt schief und schön zugleich. Wer weiß, ob man nicht auch von einem Wunder Heine sprechen sollte.“

 

Warum ist dieser Dichter gerade heute und gerade für Abiturienten noch wichtig, interessant und lesenswert? Aus vier Gründen.

 

Erstens ist er der Überwinder der Romantik. Er hat die altbackene Sprache aus ihrem Korsett befreit, sie erweitert, bereichert, demokratisiert. Er hat schon in seinen frühen Liebesgedichten eine universell verständliche, Sprache gefunden, deren Unmittelbarkeit, Präzision und Sensibilität noch heute faszinieren. Ganze Generationen sollen nach Heine sozusagen „vom Blatt“ geliebt haben. In seinen Texten schafft er es immer wieder, den romantischen Ton ironisch abzubrechen und mit realistischen Pointen den Leser gewissermaßen „aufzuwecken“. Als Reich-Ranicki in der Sondersendung des „Literarischen Quartetts“ zu Heines Todestag im Februar von all dem „romantischen Zeug“ sprach, ging ein Raunen und Lachen durch die Zuschauerreihen. Darf man so despektierlich in der Umgangssprache von hoher Dichtung sprechen? Offenbar wussten nur wenige, dass Heine selbst diese Formulierung gebraucht hat, und man stelle sich die Reaktion der Leser im Jahre 1827 vor, wenn die Schlusszeilen eines Gedichts lauteten: „Doch Lieder und Sterne und Blümelein, / Und Äuglein und Mondglanz und Sonnenschein / Wie sehr das Zeug auch gefällt, / so macht’s doch noch lang keine Welt.“

Zweitens ist Heine, wie ich schon ausgeführt habe, ein politischer Dichter, ein Dichter, der die Welt sieht, wie sie ist, mit ihren sozialen Missständen, und der sie mit seiner Kunst verändern will. Denken Sie an das Gedicht „Die schlesischen Weber“, in dem die ausgebeuteten Handwerker zu Worte kommen und konkret die nach ihrer Meinung Verantwortlichen anklagen: den Gott, zu dem sie vergeblich gebetet haben, den König der Reichen und das falsche Vaterland. Heine steht auf der Seite der Armen und Entrechteten, er kämpft gegen Heuchelei, Duckmäusertum, Obrigkeitsdenken, er gibt das Vorbild eines freien und unerschrockenen Bürgers. Er glaubt, dass Nationalgefühl eines Tages überflüssig wird und dass nur ein „Bewusstsein des Weltbürgertums“ Zukunft hat und früh oder spät „auf ewig zur Herrschaft gelangen muss.“ Heine ist, wie der Schriftsteller Heinrich Mann sagte, „das vorweggenommene Beispiel des modernen Menschen.“ Wie aktuell klingt etwa Heines Analyse: „Der Fanatismus ist ein ansteckendes Übel, das sich unter den verschiedensten Formen verbreitet, und am Ende gegen uns alle wütet.“ Oder seine Kritik an Amerika: „Wer auch nur im entferntesten Grade von einem Neger abstammt (...) muss die größten Kränkungen erdulden, Kränkungen, die uns in Europa fabelhaft dünken. Dabei machen diese Amerikaner großes Wesen von ihrem Christentum und sind die eifrigsten Kirchengänger. Solche Heuchelei haben sie von den Engländern gelernt, die ihnen übrigens ihre schlechtesten Eigenschaften zurückließen.“ Dass Heine bis heute großen Einfluss auf die deutsche Literatur hat, sei nur nebenbei erwähnt; Autoren wie Kästner, Tucholsky, Brecht, Enzensberger, Fried, Rühmkorf und Biermann können ihr Vorbild Heine nicht verleugnen.

Drittens ist Heine ein Vorkämpfer der europäischen Einigung, ein Freund Frankreichs, der sich jahrelang in seinen Zeitungsartikeln und Schriften bemüht hat, unsere beiden Völker einander näher zu bringen. Eine Schulpartnerschaft wie die zwischen dem Collège de Marcq und dem Ratsgymnasium würde ihn hoch erfreuen. Wie er überhaupt in der Jugend die Zukunft sah: „Die Jugend ist uneigennützig im Denken und Fühlen, und denkt und fühlt deshalb die Wahrheit am tiefsten, und geizt nicht, wo es gilt eine kühne Teilnahme an Bekenntnis und Tat.“ Heine war übrigens ein zufrieden stellender bis guter Schüler, der sich nicht besonders hervortat, außer in Philosophie. Das Fach unterrichtete der Rektor am Lyceum in Düsseldorf, ein katholischer Priester, der Heine nach Kräften förderte. Dieser schreibt später über die Bedeutung des Philosophieunterrichts für seine geistige Entwicklung: „Es ist gewiss bedeutsam, dass mir bereits in meinem dreizehnten Lebensjahre alle Systeme der freien Denker vorgetragen wurden, und zwar durch einen ehrwürdigen Geistlichen, der seine (priesterlichen) Amtspflichten nicht im geringsten vernachlässigte, so daß ich hier frühe sah, wie Religion und Zweifel ruhig nebeneinander gingen, woraus in mir nicht nur der Unglauben, sondern auch die toleranteste Gleichgültigkeit entstand.“ Heine verließ übrigens 1814 das Gymnasium ohne Reifezeugnis und begann eine kaufmännische Lehre bei seinem Onkel Salomon in Hamburg. Was ihn nicht hinderte, später nach einer speziellen Aufnahmeprüfung Rechtswissenschaft, Literatur und Geschichte zu studieren. Sie sehen, auch ohne Abitur kann man weltberühmt werden!

Und viertens ist Heine ein ungemein erheiternder, witziger, bissiger, sarkastischer Autor, dessen Texte an vielen Stellen so klingen, als seien sie heute geschrieben. Wir haben einige Beispiele gehört. Wenn man Heine feiert, wird kein Leichnam eines Klassikers künstlich beatmet. Die zahllosen Veranstaltungen, Revuen, Konzerte (Heine ist auch von der Pop-Musik vereinnahmt worden) beweisen es.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten! Heute werden Sie nun aus dieser Schule entlassen. Für Ihren Idealismus und Ihr großes Engagement im schulischen Leben, in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG - danke ich Ihnen herzlich. Zum Schluss ein paar Wünsche von Ihrem Schulleiter, die sich aus dem Gesagten ergeben. Bewahren Sie sich – wie Heine – auch als Erwachsene Ihren Idealismus, Ihre Begeisterungsfähigkeit, Ihren Elan im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Verdummung, gerade in der heutigen Zeit, wo ganze Schichten in Gefahr sind, von der kulturellen Teilhabe ausgeschlossen zu werden. Bilden Sie sich, nachdem Sie aus der Obhut Ihrer Lehrerinnen und Lehrer entlassen werden, im Leben stets weiter, denn, wie Heine sagt: „So ein bißchen Bildung ziert den ganzen Menschen.“ Besuchen Sie, wenn Sie mal nach Paris fahren, den Montmartre-Friedhof und fragen Sie nach dem Grab von „Henry Heine“. Und legen Sie dann, wie ich es vor Jahren mit einem Deutsch-Lk getan habe,  am Grab Heines eine Rose nieder. Denken Sie an die Erkenntnis des Dichters: ,,Alle Menschen, die kein Herz haben, sind dumm. Denn die Gedanken kommen nicht aus dem Kopfe, sondern aus dem Herzen.“

 

Und jetzt wünsche ich uns weiterhin eine schöne Abschiedsfeier und freue mich auf den Abiball heute Abend. Dazu passt dann das wirklich letzte Heine-Zitat, wieder aus dem „Wintermärchen“: „Ich danke dem Schöpfer in der Höh, / Der, durch sein großes Werde, / Die Austern erschaffen in der See / Und den Rheinwein auf der Erde. // Der auch Zitronen wachsen ließ, / Die Austern zu betauen - / Nun laß mich, Vater, diese Nacht / Das Essen gut verdauen!“