MANFRED LAUFFS

Rede zu Verabschiedung der Abiturientia 2001 (23.6.2001)

 

Bildung und Reife

 

Liebe Eltern,

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Ein Franzose, ein Deutscher und ein Engländer sollen erschossen werden. Jeder hat noch einen letzten Wunsch frei. Der Franzose wünscht sich ein letztes wunderbares Abendessen. Der Deutsche möchte noch einmal eine Rede halten. Da sagt er Engländer, er möchte bitte vor der Rede des Deutschen erschossen werden. Wir haben da ein schlechtes Image in Europa! Aber keine Angst! Heute soll keiner erschossen werden, und bevor ich mit meiner Rede losschieße, sage ich Ihnen, dass sie laut Bildschirmauskunft 29 KB bzw. 8200 Zeichen umfasst, nicht länger als 10 Minuten dauern wird und nach meiner festen Absicht kurzweilig sein soll. Herr Sump kann ruhig nach alter Tradition die Zeit stoppen.

 

Es ist mir eine Freude, am letzten Schultag einige Worte an Sie zu richten. Ich gratuliere Ihnen zum bestandenen Abitur, einem ganz besonderen, immerhin ist es das erste Abitur in einem neuen Jahrtausend. Das macht Ihnen so schnell niemand nach! Sie haben es mit Bravour geschafft, auch wenn der Weg dorthin manchmal STEINig und STACHlig war. Und alles aus eigener Kraft, denn trotz größter Anstrengungen ist es den Genetikern in unseren Bio-Leistungskursen bisher noch nicht gelungen, Abiturienten zu klonen!

 

Doch zunächst darf ich unsere Gäste begrüßen. Herzlich willkommen heiße ich Frau Stellvertretende Bürgermeisterin Ursula Ansorge, Frau Bärbel Rietkötter als Vorsitzende der Schulpflegschaft und Mutter einer Abiturientin, Herrn Pfarrer Hildebrandt als Vertreter der Kirchen, Herrn Amtsgerichtsdirektor a.D. Rüdiger Winter, den Vorsitzenden des Fördervereins, und den Schülersprecher Robert Schmirler. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

 

Wir haben nach alter Tradition auch wieder zwei ehemalige Schüler eingeladen: Vor 50 Jahren hat Herr Hermann Hoffmann hier sein Abitur gemacht, die Silberjubilarin – also vom Abijahrgang 1976 – ist Frau Christa Heitfeld, zugleich Mutter eines Abiturienten.Herzlich willkommen am Ratsgymnasium!

 

Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn Sie haben Ihre Kinder in enger Zusammenarbeit mit der Schule erzogen und gebildet und zugleich liebevoll und engagiert das Fünf-Sterne-Hotel „Bei Mama und Papa“ betrieben, nebst hauseigener Taxizentrale.

 

Ferner begrüße ich Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Sie wieder einmal mit großem Engagement und - wenn man der Abizeitung glauben darf – auch mit Pizza und Waffeln - einen Jahrgang erfolgreich zum Abitur geführt haben. Ganz herzlichen Dank Ihnen allen, besonders dem Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt, und dem Jahrgangsstufenleiter, Herrn Oberstudienrat Hugo Appelhoff!

 

Ich möchte zwei Themen ansprechen, die eng mit Ihrem Abitur zusammenhängen, nämlich Bildung und Reife.

 

In der Einleitung seines Buches „Bildung – alles was man wissen muss“ zieht Prof. Dietrich Schwanitz eine vernichtende Bilanz. In Deutschland sei die Bildung zu einem Schattenreich geworden. Verantwortlich dafür seien der Kulturföderalismus der Länder und die Politiker, die die Ansprüche immer mehr gesenkt hätten. Immer neue Modelle würden durchgespielt, es herrschten die drei Monster Verunsicherung, Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit. Die Normen seien zusammengebrochen. Aber die Verachtung gegenüber dem Lehrerberuf sei ungerecht, einem Job, den selbst ein gewiefter Manager kaum einen Morgen lang durchstehen würde, ohne an Flucht zu denken: nämlich eine Horde lernunwilliger, ungezogener, an Fernsehunterhaltung gewöhnter Bestien für die Erhabenheit des deutschen Idealismus zu interessieren, während diese – unverschämt und sadistisch – nichts anderes im Sinne haben, als Attacken auf die Würde der Lehrer zu organisieren. Und dann werde ihnen auch noch die Schuld gegeben, weil sie die Kids mit Goethes „Iphigenie“ nicht antörnen könnten. Ich frage mich, ob dieses Horrorbild der Wirklichkeit entspricht. Immerhin schreibt Schwanitz: „Das heißt nicht, dass es nicht hie und da funktionierende Schulen, engagierte Direktoren und erfolgreiche Lehrer und halbwegs glückliche Schüler gäbe.“ Ich würde gern vermuten, er schrieb das kurz nach seinem Besuch im Ratsgymnasium im Februar 1999! Aber auch wenn wir zu den Ausnahmen gehören, hat Schwanitz in seinem Buch sicher den wichtigen Versuch  unternommen, einmal einen Gesamtüberblick zu geben über das, was man wirklich wissen sollte, um als gebildet zu gelten, und auch über das, was man nicht zu wissen braucht, z. B. alles, was in der Regenbogenpresse steht. Ironisch schreibt er: „Outet sich jemand als Kenner von nachmittäglichen Pöbel-Talkshows, ist er entweder ein Schriftsteller oder ein Arbeitsloser mit einem proletarischen Geschmack und wenig sozialen Kontakten, der nachmittags schon mit einem Bier in der Hand vor dem Fernseher sitzt, anstatt Shakespeares Hamlet im Original zu lesen.“ Das Buch von Schwanitz steht in dieser Woche auf Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste, an Bildung scheint trotz aller Unkenrufe ein Rieseninteresse zu bestehen. (In derselben Ausgabe nennt übrigens der Kritiker Marcel Reich-Ranicki eine lange Liste von Büchern, die man unbedingt in der Schule lesen müsste, und erweist sich wieder mal als unerschütterlicher Idealist.) Am Ratsgymnasium haben Sie vieles von dem gelernt und kennen gelernt, was im Buch von Schwanitz genannt wird, längst nicht alles, aber man lernt ja nie aus, Sie haben das Lernen gelernt und auch das selbstständige Denken. Sie haben die sogenannten „Kompetenzen für morgen“ erworben: auf einer breiten Wissens- und Erfahrungsbasis können Sie selbstständig Aufgaben übernehmen und Probleme lösen, keiner von Ihnen  würde auf die Frage: „Wie viel ist 23 x 26?“ antworten: „Da nehm’ ich den Joker!“ Zugleich hat Ihnen die Schule – im Zusammenwirken mit den Familien und dem übrigen gesellschaftlichen   Umfeld – soziale Kompetenzen vermittelt, wie Teamfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Solidarität, Konflikt-bewältigung. Und auch die Wertorientierung war ein wesentlicher Teil unserer Bemühungen. Im Bereich der Computertechnologie sind Sie viel beschlagener als etwa die Abiturienten des Jahrgangs 1991 es waren. Allerdings ist dies ein Gebiet, wo sich das Verhältnis von Lernenden und Lehrenden manchmal umkehrte, wo Sie uns Lehrern etwas beibrachten – eine sehr spannende Erfahrung für uns!

 

Die Beschäftigung mit der Literatur zeigte Ihnen, wie sehr die in den Werken der Dichter dargestellten Erlebnisse und Verhältnisse Teil unseres kulturellen Erbes und persönlichen Lebens sind. Oft gingen Realität und Fiktion nahtlos ineinander über, so wenn Ines die „KAISERliche Botschaft“ von Kafka interpretierte, wenn Stephan missmutig feststellte, dass der Held eines besprochenen Romans mal ein Taugenichts, mal ein Hochstapler und mal ein mordendes Monster war, niemals aber ein Leistungsschwimmer, oder wenn Lars (Abi 98) vor der Schule wartete und man dann eine Szene erlebte aus dem Film „Nora rennt“.

 

Bildung als Lehreraktivität hängt mit Bildhauerei zusammen, ist also im Grunde eine künstlerische Tätigkeit. Übrigens auch eine gärtnerische: Bildung hat nur klanglich etwas mit Dung zu tun, aber wir haben gewissermaßen den Boden bereitet, auf dem die Bildungssaat aufgegangen ist. „Bildung ist wichtig“, meint der Schriftsteller und Schauspieler Peter Ustinov, „vor allem, wenn es gilt, Vorurteile abzubauen. Wenn man schon Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist“. Sorgen Sie lebenslang – auch nach der beruflichen Ausbildung – für Ihre Bildung, Fortbildung und Herzensbildung. Und für die Ihrer Kinder. Die Anmeldetermine am Ratsgymnasium entnehmen Sie bitte der örtlichen Presse! Denken Sie an den Satz von Heinrich Heine: „Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt“.

 

Das Blatt, das Sie gleich erhalten werden, ist das Abitur- oder Reifezeugnis. Was bedeutet das? Wenn ich Ihnen am Morgen der schriftlichen und mündlichen Prüfung gesagt hätte: „Jetzt seid ihr reif!“, hätten Sie das als Drohung aufgefasst. Die meisten von Ihnen waren in der Tat nach den Prüfungstagen reif – für den Urlaub. Nein, mit Reife ist hier etwas anderes gemeint. Bleiben wir bei der Gartenmetapher, die schon Erich Kästner in seiner „Ansprache zum Schulbeginn“ verwendete: vor neun Jahren wart ihr „Früchtchen“, jetzt seid ihr „reifes Obst“ – sicher kein „Spalierobst“, dazu seid ihr zu individualistisch – und auf jeden Fall „Glückspilze“. Dass der Reifungsprozess in den letzten Jahrgängen immer früher begann, zeigt sich insbesondere auf sexuellem Gebiet. Ich zitiere Frau Bachmann: „Früher lachte man in Klasse 9, wenn es an die Potenzrechnung ging, heute kichern schon die Sechstklässler über die periodischen Brüche!“

 

Jedenfalls ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo Sie aus der Obhut der Familie und der Schule in das sogenannte „Leben“ entlassen werden – eben: erwachsen, selbstständig, „reif“ für Studium, Beruf, Steuerklärung, Politik, Eheschließung und Windelnwechseln.

 

Unsere besten Wünsche begleiten Sie. Wir erwarten viel von Ihnen! Engagieren Sie sich weiterhin für die Gemeinschaft, wie Sie es am Ratsgymnasium in vielfältiger und das Schulleben bereichernder Weise getan haben, in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG – wofür ich Ihnen herzlich danken möchte. Denken und kommen Sie ab und zu ans Ratsgymnasium zurück, damit wir erfahren, für welche tollen Karrieren wir den Grundstein gelegt haben. Und vergessen Sie bei all Ihren Plänen, Zielen und Beziehungen zu anderen Menschen nicht den wunderbaren Schlusssatz aus dem Film „Manche mögen’s heiß“ von Billy Wilder, der gestern in alter Frische 95 Jahre alt geworden ist: „Nobody is perfect!“