Rede zur Verabschiedung der Abiturientia 2005 (24.6.2005)

des Schulleiters Manfred Lauffs

 

FRIEDRICH SCHILLER



Liebe Eltern,
liebe Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Friedrich Schiller, dessen 200.Todestag in diesem Jahr groß gefeiert wird – auf der Bühne, in den Medien, in Büchern, Artikeln und Filmen und im Andenkenhandel – Schiller und Goethe als Salz- und Pfefferstreuer –, dieser zweite große Klassiker gehört zu den meistparodierten Schriftstellern aller Zeiten, Sie haben eben – vorgetragen von Sarah – nur eine von Hunderten Parodien gehört. Er gehört auch zu den meistzitierten. Und das hängt eng miteinander zusammen, da es vom Erhabenen zum Lächerlichen manchmal nur ein Schritt ist. Schillers Pech war, dass sich oft seine begeistertsten Verse in Alltagssprüche verwandelten, das Pathos in plakative Banalität. Irgendwie passen die Zitate immer. Wir alle kennen unsere Pappenheimer, die Axt im Haus erspart den Zimmermann und wird im Baumarkt gekauft. „Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb“ ist mancher von Ihnen in die Nachprüfung gegangen. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ – und er seinen Mitschüler mit dem Zirkel piekt. „Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“, und da haben wir Lehrer erst recht keine Chance. „Errötend folgt er ihren Spuren / Und ist von ihrem Gruß beglückt“ – sind da Stefan H. und Svenja M. gemeint? – „Nicht wirklich“, würde Peter S. antworten. Und auch zur Abiturprüfung hat Fritze Schiller, wie ihn Herr Hoppe gerne nennt, einen Spruch parat: „Von der Stirne heiß / rinnen muss der Schweiß / Soll das Werk den Meister loben / Doch der Segen kommt von oben“. Nämlich heute von mir, der ich Ihnen Ihre Zeugnisse überreiche. (Insofern ist das hier durchaus eine wichtige Veranstaltung, auch wenn dabei nicht 31000 Euro umgesetzt werden.)  Ich meine allerdings Folgendes: Je mehr jemand parodiert und zitiert wird, desto größer und wichtiger ist er. Denn nur das Besondere und Bekannte und Umstrittene reizt zum Widerspruch, zum Spott oder zur inhaltlichen Verbreitung und Wiederholung durch das Zitat. Und weil Schiller einiges zu sagen hat, das zu Ihrer heutigen Abschlussfeier passt, soll er im Mittelpunkt meiner Rede stehen.

Zunächst gratuliere ich Ihnen herzlich zum bestandenen Abitur, das Sie mit Bravour geschafft haben. Das freut mich ganz besonders, weil Sie der erste Jahrgang sind, den ich als neuer Schulleiter 1996 begrüßen konnte. Damals saßt ihr auch hier in der Aula, saht aber etwas ängstlicher und ehrfürchtiger aus. Das hat sich dann bald gegeben. Heute empfinden Sie alle die Freude, den „schönen Götterfunken“, wie wir zu Beginn gehört haben, in der Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“, und die ungemein schöne Metapher „feuertrunken“, auf wen sollte sie heute zutreffen, wenn nicht auf Sie?

Bevor ich mich weiter Schiller zuwende, darf ich zunächst unsere Gäste begrüßen, die gekommen sind, um Ihnen zu gratulieren und mit uns zu feiern! „Wer zählt die Völker, nennt die Namen, / Die gastlich hier zusammen kamen?“ (Aus welcher Schillerballade stammt das Zitat? Tim? – Zuruf  von Tim Spickenbaum: „Die Kraniche des Ibycus!“ – Danke, sehr gut!)

Herzlich willkommen heiße ich Herrn Bürgermeister Ulrich Roland, Frau Landmesser als Vorsitzende der Schulpflegschaft, und Lisa Kirschbacher, unsere engagierte Schülersprecherin. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit von Frau Rietkötter, der Vorsitzenden, und von Herrn Schulteis, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Fördervereins, und ich begrüße Herrn Steffen, den Vorsitzenden des Ehemaligenvereins, er hat Ihnen als Geschenk das Organ des Ehemaligenvereins, die „Heftklammer“, auf den Stuhl gelegt, ein Mitgliedsantrag ist dabei, und Sie bekommen Ihr Zeugnis heute nur, wenn Sie den unterzeichnen!  Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

Wir haben nach alter Tradition auch wieder ehemalige Schüler eingeladen: Von den Goldabiturienten ist anwesend Herr Hülsmann, mehrere Klassenkameraden  sind mitgekommen, darunter Herr Mengede, ein ehemaliger Lehrer dieser Schule. Vom Abijahrgang 1980 ist Dr. Herbert Hollmann gekommen – herzlich willkommen!


Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn Sie haben entscheidend zum Erfolg Ihrer Kinder beigetragen. Sie haben als Experten in Pädagogik und Psychologie eng mit der Schule zusammengearbeitet, dem Nachwuchs gratis Kost, Logis, Transport und Therapie geboten, nach dem Motto eines anderen Klassikers, nämlich Jean Pauls: „Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen.“


Und last, but not least begrüße ich herzlich auch meine Kolleginnen und Kollegen, die unsere Abiturientinnen und Abiturienten auf dem Weg von Klasse 5 bis Klasse 13 begleitet haben. Sie alle haben daran mitgearbeitet, ihnen das Wissen und die Bildung zu vermitteln, die nötig sind, um die mit dem Abitur verbundenen Qualifikationen zu erlangen. Als Schulleiter bedanke ich mich für das große Engagement des Kollegiums und nenne stellvertretend Ihre Jahrgangsstufenleiterin, Frau Studienrätin Ute Bachmann (Motto: „Mit Ute zur Elite!“), den Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt, und meine Stellvertreterin, Frau Iris Denkler! Ihnen allen war es ein Anliegen, Schillers Maxime zu folgen: „Der Kopf muss das Herz bilden!“

 

Die Schule, die Schiller zwischen 1773 und 1780, also vom 14. bis zum 21. Lebensjahr besuchte,  sah ein bisschen anders aus als das Ratsgymnasium. Es war die Karlsschule, die Herzogliche Militärakademie, zunächst in der Solitude untergebracht, einem Lustschloss in der Nähe Stuttgarts. Hier lernte der kleine Fritz acht Jahre lang in strengster Abgeschiedenheit und unter militärischen Drill. Freie Tage gab es kaum, keine Schulferien. Der Schulalltag war genau geregelt: 5 Uhr: Wecken, Aufstehen, Waschen, Ankleiden, Frisieren des Zopfes. 6 Uhr: Frühappell, Morgengebet, Frühstück (gebrannte Mehlsuppe). 7 bis 11 Uhr: Unterricht. 11 Uhr: Putz- und Flickstunde für die Uniform. Anlegen des Paradeanzugs. 12 Uhr: Mittagsappell. Entgegennahme von Strafbillets durch den Herzog Karl Eugen von Württemberg. Mittagessen (schweigend). 13 Uhr: Spaziergang oder Exerzieren. 14 bis 18 Uhr: Unterricht. 18 Uhr: Erholungsstunde. 19 Uhr: Abendessen. Selbststudium. 21 Uhr: Nachtruhe. Der Herzog sah die Schüler wie seine Söhne und erwartete Dankbarkeit, Unterwürfigkeit und absoluten Gehorsam. Kleinste Vergehen wurden streng bestraft, durch Rutenhiebe, Stockschläge oder Essensentzug. Schiller war zunächst ein mittelmäßiger Schüler, auch häufig krank, im dritten Jahr der schlechteste Schüler – aber sicher nicht aus Dummheit, sondern aus innerer Abwehr gegen das menschenverachtende System dieser „Gehirnfabrik und Sklavenplantage“ (Schubart). Ab 1775 kam Schiller in die medizinische Fakultät, was wie eine Erlösung wirkte. Er wurde in seinen Leistungen besser, und er begann zu dichten, nachts, heimlich, beim Schein von geschmuggelten Kerzen. Hier entstand sein erstes großes Drama, „Die Räuber“, geboren aus dem Hass auf Tyrannei, Unterdrückung, militärischen Drill. Ein Stück von ungeheurer, eruptiver sprachlicher Kraft, die sich gleich in den ersten Szenen zeigt, etwa wenn Karl Moor sich vorstellt: „Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muss Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.“ Karl Moor, der Kämpfer für Gerechtigkeit, für die Republik, für die Befreiung Deutschlands ist der geniale Held des „Sturm und Drang“, jener 68er-Bewegung 200 Jahre vor der Protestbewegung in der Bundesrepublik. „Die Räuber“ wurden 1782 in Mannheim uraufgeführt und hatten ein beispielloses Echo, die Zustimmung der Zuschauer – Schiller war unter ihnen – nahm frenetische Formen an: „Das Theater“, berichtet ein Augenzeuge, „glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht“. So etwas kennt man heute nur von Rock- und Popkonzerten. Schiller wurde über Nacht das Symbol des Freiheitskampfes, der Shooting-Star, der Fanpost, Einladungen und Geschenke aus ganz Deutschland erhielt. So begann die Karriere, die ihn zum weltberühmten Dichter machte.

 

Für mich ist Schiller eine alte Liebe, die ich immer wieder neu entdecke: seine Lyrik, seine Balladen, seine philosophischen Schriften. In Klasse 7 lernten wir die „Bürgschaft“ auswendig, große Teile kann ich noch heute aufsagen, und der Satz über die Freundschaft „Die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn“ bleibt unvergesslich. Im Mittelpunkt des Werks stehen natürlich die Dramen, die Thomas Mann in seiner großen Schillerrede vor 50 Jahren so trefflich  als „höhere Indianerspiele“ bezeichnet hat, immer durchglüht vom großen Freiheitsthema und einer unverwechselbaren, glanzvollen Theatersprache, wo die Metaphern von den Schauspielern auf grandiose Flugbahnen geschickt werden, sei es in „Kabale und Liebe“ mit der scharfen Absolutismuskritik (Der Fürst verkauft 7000 seiner Landeskinder als Soldaten nach Amerika, um Brillanten für seine Mätresse zu bezahlen), sei es im „Don Carlos“ mit dem großen Appell des Marquis Posa an den König Philipp II.: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“, sei es im „Wilhelm Tell“, dem Freiheitsdrama schlechthin. Und diese Dramen leben, werden allabendlich gespielt auf „den Brettern, die die Welt bedeuten“ (auch ein Schillerzitat) und sind auch durch das moderne Regietheater nicht totzukriegen: die Räuber in Lederkluft auf Motorrädern, Luise als magersüchtiges Mädchen im Unterrock, Carlos als hysterischer Punk, Johanna von Orléans als kriegerische Emanze; Schillers hohe Sprache wird gebrüllt, verschluckt und durchs Mikrophon geschrieen. Schiller reloaded -  Die Frage ist, ob mit dieser Methode der Weg zu ihm nicht eher verbaut wird.  Lassen Sie mich Ihnen aber ein Beispiel aus noch nicht lange vergangener Zeit berichten, das zeigt, wie aktuell Schiller sein und zu welcher Begeisterung er die Zuschauer treiben kann. 1989, in den Wochen vor dem Mauerfall, spielte das Theater Schwerin in der damaligen DDR den „Wilhelm Tell“ und arbeitete genial die Parallelen heraus: Landvogt Geßler, im dunklen Anzug mit Schlips und Kragen, ruft: „Schafft das freche Volk mir aus den Augen. Den kecken Geiste der Freiheit will ich beugen!“ Gelächter und Beifall im Zuschauerraum. Der berühmte Rütlischwur des Stücks „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“ wird von der Marseillaise begleitet. Donnernder Beifall, als Tell sagt: „Wartet ihr ab, ich handle. Wer ist so feig und könnte jetzt noch zagen?“ Das Schlussbild zeigt ein Schild mit der Aufschrift „Sperrgebiet – Unbefugten ist das Betreten verboten!“ Die Schauspieler legen Zündschnüre um die Zwingburg, und Tell entschwebt an einem Drachensegler durch den Zuschauerraum. „Reißt die Mauern ein! Wir haben’s aufgebaut, wir wissen’s zu zerstören.“ Beifallsstürme und Bravorufe brechen los, das Theater tobt vor Begeisterung. In einer Diskussion mit dem Publikum meinte eine Zuschauerin: „Das ist erregend, dass einem der Schweiß ausbricht.“ (Nach einem Bericht der WAZ vom 12.10.1989.)

 

„Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, / Und würd er in Ketten geboren“ - diese Verse aus dem Gedicht „Die Worte des Glaubens“ sind Schillers literarisches Credo. Und er behandelt das Thema immer wieder neu, entfaltet es in seinen verschiedensten Facetten, betrachtet Freiheit in politischer, ökonomischer, künstlerischer und persönlicher Hinsicht. Ja, er glaubt sogar und begründet das ausgiebig in seiner Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, dass aus der Freiheit der Kunst die politische Freiheit erwächst, dass durch die Schönheit des Spieles, also der kreativen Tätigkeit,  der Mensch zur Vollendung gelangt.

Diesem Ideal soll man sein Leben lang nachstreben.

 

Das macht Schiller so modern, und deshalb eignet er sich auch zum Vorbild, das man aus dieser Abschiedsstunde mitnehmen kann. Schiller war und ist der Dichter der Jugend, des Aufruhrs, der Freiheit, des Idealismus. Als die Ärzte  nach Schillers Tod – er wurde nur 46 Jahre alt – den Leichnam öffneten, fanden sie alle lebenswichtigen Organe von Krankheit zerfressen. „Bei diesen Umständen“, heißt es im Obduktionsbericht, „muss man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können“. Daraus liest Rüdiger Safranski, der Verfasser der in diesem Jahr erschienenen großen Schiller-Biographie, eine Definition von Schillers Idealismus ab: „Idealismus ist, wenn man mit der Kraft der Begeisterung länger lebt, als der Körper eigentlich erlaubt.“


Liebe Abiturientinnen und Abiturienten! Heute werden Sie nun aus dieser Schule entlassen. Für Ihren Idealismus und Ihr großes Engagement im schulischen Leben,  in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG - danke ich Ihnen herzlich. Ich hoffe, Sie werden bessere Erinnerungen an das Ratsgymnasium behalten als Schiller an seine Karlsschule! Aus unseren vielen Diskussionen im Deutschunterricht weiß ich, dass Sie sich nicht von Klassikern wie Goethe und Schiller gequält gefühlt haben, wie noch frühere Schülergenerationen, sondern bereichert. Ich glaube, Sie werden den folgenden Sätzen von Ezra Pound zustimmen: „Ein klassisches Werk ist klassisch, nicht weil es sich gewissen Regeln des Aufbaus fügt oder zu gewissen Definitionen stimmt (von denen sein Autor höchstwahrscheinlich nie gehört hat). Es ist klassisch kraft einer gewissen ewigen und nicht kleinzukriegenden Frische.“

 

Zum Schluss ein paar Wünsche von Ihrem Schulleiter, die sich aus dem Gesagten ergeben. Bewahren Sie sich – wie Schiller – auch als Erwachsene Ihren Idealismus, Ihre Begeisterungsfähigkeit, Ihren Elan im Kampf gegen Ungerechtigkeit  und Mittelmaß! Seien Sie nie mit dem Erreichten zufrieden! Folgen Sie Schillers pädagogischem Leitsatz: „Man muss können, was man will“! Und vergessen Sie nicht, wenn Sie Männer und Frauen sind, die Träume Ihrer Jugend!