Festrede zur Zeugnis-Übergabe

Oberstudiendirektor Manfred Lauffs am 20. Juni 1998

 

JUGEND

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Eltern, liebe Gäste,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Wäre ich ein gewisser Fußballtrainer, so könnte ich jetzt zu Ihnen sagen: "Ihr habt fertig!" Da ich aber heute als Ihr Schulleiter zu Ihnen spreche, zum allerletzten Mal - falls Sie nicht als Lehrerinnen und Lehrer zurückkommen - kann es bei diesem Rudimentärdeutsch nicht bleiben, da wird schon etwas mehr erwartet. Wieder sitzen Sie in den ersten Reihen der Aula, Früchtchen waren Sie damals vor neun Jahren, wie Erich Kästner es einmal formulierte, reifes Obst sind Sie heute, sicher kein Spalierobst, auf jeden Fall Glückspilze, denn man sieht Ihnen an, wie glücklich Sie sind. Mit Recht, nach jahrelangem Klassenkampf und der erfolgreichen Prüfung am Ende! Das gute Wetter paßt dazu, das haben Herr Schmidt und ich extra in Münster bei der Bezirksregierung auf dem Dienstweg bestellt, mit drei Durchschlägen.

 

Wir haben uns hier versammelt, um das Glück mit Ihnen zu teilen und Ihnen zum bestandenen Abitur zu gratulieren. Dabei zeigt die große Zahl der Gäste die besondere Bedeutung dieses Ereignisses und die enge Verbundenheit des Ratsgymnasiums mit seinem gesellschaftlichen Umfeld. Ich begrüße ganz herzlich als Vertreter der Stadt Gladbeck unseren Bürgermeister, Herrn Eckard Schwerhoff, der heute zugleich als stolzer Vater anwesend ist. Ich begrüße ebenso herzlich als Vertreter des Fördervereins dessen Vorsitzenden, Herr Amtsgerichtsdirektor a. D. Rüdiger Winter. Wir freuen uns ferner über die Anwesenheit von Herrn Manfred Bogedain, der in Vertretung für Frau Rietkötter, die 1. Vorsitzende der Schulpflegschaft, zu uns sprechen wird, und von Susanna Kim, der engagierten Schülersprecherin. Außerdem ist ein Silberabiturient zu Gast, vor 25 Jahren machte hier sein Abitur Herr Andreas Mimberg. Herzlich willkommen an der alten Schule!

 

Last but not least begrüße ich auch Sie, meine verehrten Eltern. Ich gratuliere Ihnen und sage Ihnen herzlichen Dank, denn Sie haben Ihre Kinder nicht nur finanziert, sondern auch - in enger, vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Schule - erzogen und gebildet. Mein Dank gilt natürlich auch meinen Kolleginnen und Kollegen, die Sie, liebe Abitiurientinnen und Abiturienten, von Klasse 5 bis Klasse 13 geleitet und begleitet haben auf einem Weg, der nicht nur in den Mathematikkursen oft steinig und stachlig war. Stellvertretend nenne ich den Jahrgangsstufenleiter, der in der Oberstufe Ihr verläßlicher Berater war, Herrn OStR Hans-Werner Schmidt.

 

Als ich diese Abschiedsrede vorbereitete, habe ich mir überlegt, was ich eigentlich von Ihrer Generation weiß. Ein kluger Mensch hat folgende herbe Kritik geäußert: "Unsere Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute widersprechen den Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, legen die Beine übereinander und tyrannisieren die Lehrer." Es war der Philosoph Sokrates, der so sprach. Vor 2500 Jahren. Damit ist die realistische Aussagekraft der Kritik meines Erachtens arg zu relativieren. Sollte aber Peter König, Zeitungsredakteur und Jg. 1971, also nur unwesentlich älter als Sie, recht haben, wenn er meiner Generation, und damit der Generation Ihrer Eltern, vorhält: "Versucht nicht, uns zu verstehen ... Ihr werdet uns nicht verstehen. Wir sind anders als Ihr. Wir kopieren eure Moden und Utopien. Wir haben von euch gelernt, wie man sich durchwindet, durchfrißt. Wir sind alle kleine Schmarotzer in euren Häusern, behütet durch dicke Polster aus Wohlstand, die angelegt wurden, weil wir es einmal besser haben sollten. Wir nehmen eure Wohnungen und euren Besitz in Anspruch. Warum sollten wir noch mehr wollen, wenn wir schon alles haben? Unsere Ansprüche sind groß und selbstverständlich und einer Konsumgesellschaft angemessen. Wir nutzen eure Welt, aber wir verweigern das Nacheifern. Wir funktionieren anders. Wir sind anders konstruiert, sozialisiert, domestiziert. Früher war alles anders, und deshalb kann man uns auch nicht mit früher vergleichen. Unsere Jugend ist anders als eure war..."

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, von diesem Appell - "Versucht nicht uns zu verstehn!" - möchte ich mich nicht abschrecken lassen. Ich frage mich weiter: Wer sind Sie als Jugend, an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert, ja einem neuen Jahrtausend? Die markanten Fakten Ihrer noch kurzen Lebensspanne sind schnell genannt: 1986 der Supergau von Tschernobyl, Sie waren 8 Jahre alt. Der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung, die Auflösung der Blöcke, der Siegeszug der Demokratie zu Beginn dieses Jahrzehnts. Sie haben von ferne Kriege erlebt, in Ruanda, Tschetschenien, im ehemaligen Jugoslawien. Sie sind wie wir Zeitzeugen von Hoyerswerda, Solingen und Mölln, Zeugen der brennenden Asylbewerberheime. Sie sind die Medien- und Erlebnisjugend. Sie sind Gameboy-, Nintendo- und Online-gestählt. Sie sind die Generation der Kabel- und Satellitenangeschlossenen, der Bediener von Handy, Fax, CD-Rom und Internet. Sie sind die erste Generation, die nicht im Nachholkurs lernen mußte, wie ein Computer funktioniert.

 

Sie sind die Spaß- und Freizeitgeneration. Sie sind die Jugend, die über mehr freie Zeit verfügt als je eine andere vor Ihnen. Sie gehen zur Schule, aber das eigentliche Leben spielt sich außerhalb ab, in der Freizeit, im Freundeskreis. Trendgerechte Events sind unverzichtbar für Sie. Sie sind aber auch die Generation, die die Schleifung unseres Wohlfahrtsstaates erleben wird, in der die Spannungen zwischen Arm und Reich zu einem deutlichen Anstieg der Probleme führen wird. Die Zeiten sind vorbei, wo es automatisch für die Folgegeneration ein "Vorwärts" gab, der Satz: "Du sollst es einmal besser haben als wir" hat für Sie nur noch bedingt Geltung. Ich will aber nicht in den ironischen Kassandraruf einstimmen: "Ihr habt keine Chance, also nützt sie!" Uns fallen angesichts von Numerus clausus und Arbeitslosigkeit keine Patentrezepte ein, nicht sehr viel Beruhigendes, Sicherheit Verheißendes, das man als Ratschlag mit Aussicht auf Erfüllung mitgeben könnte.

 

Aber ich weiß, daß in Ihrer Generation eine große Kreativität herrscht, daß Sie neue Ideen haben und unkonventionell denken. Sie haben gelernt, einsam, aber auch gemeinsam zu arbeiten, und Sie buchstabieren das Wort TEAM nicht so: "Toll, ein anderer macht’s!" Sie haben das selbständige Denken und Lernen gelernt und werden es in tausend Facetten einsetzen. Sie sind die Zukunft der Gesellschaft. Sie gehören - und ich sage das ohne Dünkel - aufgrund des am Ratsgymnasium erworbenen Abiturzeugnisses zur Elite dieser Gesellschaft. Sie müssen und werden Häuser und Straßen bauen, Sie werden Maschinen erfinden und alternative Energien entwickeln, die unserer Umwelt eine Überlebenschance lassen. Sie werden Kindern auf die Welt helfen und Organe transplantieren. Sie werden Bücher schreiben, Bilder malen und Theater spielen. Sie werden sich in Vereinen, Verbänden und Parteien engagieren. Sie werden die Politik dieses Landes machen und deshalb - bei aller Politikverdrossenheit, die man Ihnen nachsagt - eine politische Generation sein.

 

In dem Buch "Die Asche meiner Mutter", dem großen Bestsellererfolg der letzten zwei Jahre, beschreibt der Autor Frank McCourt auf rührende, zugleich erschütternde und verblüffend witzige Weise seine Kindheit in Irland. Einmal läßt er einen Schulleiter sprechen, der mir sehr sympathisch ist. "Mr. O’Halloran kann nicht lügen. Er ist der Schulleiter. (...) Er sagt, ihr müßt studieren und lernen, damit ihr in Geschichte und allem anderen Euren eigenen Kopf habt, und was nützt es, einen eigenen Kopf zu haben, wenn der Kopf leer ist? Richtet euren Kopf ein. Richtet euren Kopf ein. Er ist eure Schatzkammer, und niemand auf der Welt kann sich da einmischen. Wenn ihr im irischen Pferdelotto gewonnen hättet, und ihr hättet euch ein Haus gekauft, würdet ihr es mit Scherben, Schrott und Unrat füllen? Euer Kopf ist euer Haus, und wenn ihr ihn mit Unrat aus den Kinos füllt, wird euer Kopf vergammeln. Ihr mögt arm sein, Eure Schuhe mögen kaputt sein, aber euer Kopf ist ein Palast."

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, damit will ich nicht natürlich nicht sagen, daß Sie nicht mehr ins Kino gehen sollen. Es gibt, das ist eine Banalität, gute und schlechte Filme, wie es gute und schlechte Bücher gibt. Filme können aufklären oder eine gemeinsame Erfahrung vermitteln. "Titanic" löst ja wohl auch deshalb eine solche Faszination aus, weil uns das Schicksal des sinkenden Luxusdampfers an das Schicksal unseres Planeten gemahnt, der auch zuwenig Rettungsboote für den Notfall hat. Die Welt ist eine Benutzeroberfläche, gehen Sie pfleglich mit ihr um, wir haben nur eine. Gebrauchen Sie Ihren Kopf, Ihren Palast, Ihren Verstand, aber auch Ihr Herz.

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, am Schluß meiner Rede danke ich Ihnen für Ihr vielfältiges Engagement, das unser Schulleben immer wieder bereichert hat, von der Arbeit in der SV über die journalistische Tätigkeit für FAZ, WAZ, Ruhr Nachrichten und Ratsia, Ihre Siege in künstlerischen Wettbewerben und Sportwettkämpfen, Ihre Gastfreundschaft gegenüber ausländischen Besuchern, Ihre Gestaltung der Homepage des Ratsgymnasiums bis zur Mitwirkung in vielen schönen Theaterstücken, Musicals und Schulkonzerten. Dies alles verdient Dank und Anerkennung. Bitte machen Sie weiter in diesem Sinne, bringen Sie Ihre Kompetenz positiv ein, übernehmen Sie Verantworung für sich, für Ihre Familien, für Ihre Freunde, für die Gesellschaft.

 

Es hat Freude gemacht, Sie zu unterrichten, es hat Spaß gemacht, mit Ihnen und auch von Ihnen zu lernen. Ich kann das besonders gut beurteilen, denn ich bin der einzige Lehrer, der mit vielen von Ihnen die Schulbank gedrückt und eine Prüfung bestanden hat. Die Schulbank war genau genommen eine Ruderbank, und die Prüfung war die Segelprüfung am Dümmer 1995.

 

Mögen Sie alle stets guten Wind in den Segeln haben, werden Sie auf dieser Fahrt Sie selbst, finden Sie Ihre eigene Wahrheit. Über dem Eingangsportal der Universität Freiburg steht ein Satz, an den ich mich immer wieder erinnere und den ich Ihnen mitgebe: "Die Wahrheit wird euch freimachen."