MANFRED LAUFFS

Rede zu Verabschiedung der Abiturientia 2000 (17.6.2000)

 

Von Gutenberg zu Gates

 

Liebe Eltern,

liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allem aber meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Im Jahre 2000 die Reifeprüfung zu bestehen – das ist sicher ein besonderes, ja einmaliges Ereignis. Vor 1000 Jahren gab es noch kein Abitur, und im Jahre 3000 wird das Abitur vielleicht per Gentechnik pränatal implantiert – also lassen Sie sich heute von uns ganz herzlich zu Ihrem Milleniumserfolg gratulieren! Die Mühe hat sich gelohnt, Sie haben es geschafft, Sie haben mit Recht gefeiert, mehr als eine Nacht, und wir alle freuen uns schon auf den heutigen Ball als krönenden Abschluss! Dass Sie als Motto „m&m“ gewählt haben, also die Anfangsbuchstaben der Vornamen Ihres Schulleiters und Stellvertretenden Schulleiters – Manfred und Martin –, ist eine schöne Geste, aber fast zuviel der Ehre. (Anmerkung für Leser: Das ist natürlich ironisch gemeint. In Wahrheit wurde das Motto gewählt, weil „MM“ die lateinische Schreibweise für 2000 und die Schokofirma „m&m“ Sponsor der Abiturienten ist.) Denn in erster Linie ist das Abitur Ihr Verdienst. Vor acht  Jahren, im Februar 1992, hat die damalige 5b meinem Vorgänger, Herrn Schulteis, zum 60. Geburtstag ein Geschenk gemacht, das ich im Schreibtisch gefunden habe. Diese große Mappe (zeigen) enthält Eure Unterschriften, dann eine Papptür mit der Aufschrift: 60. Geburtstag, und vor der Tür steht Snoopy mit einem Zettel unter dem Arm, und darauf steht: „Gutschein. Unser Geschenk ist zwar sehr klein / doch soll die Wirkung größer sein. / Ab heute soll mehr Ruhe walten. / Bis zum Sommer wollen wir uns daran halten“. Über Versmaß und Rhythmus müsste  man noch diskutieren, aufschlussreich ist die versteckte clevere Einschränkung: Im neuen Schuljahr sehen wir mal weiter! Aber irgendwie muss ja weitgehend Ruhe geherrscht haben, sonst hätten Sie nichts gelernt und säßen heute nicht hier!

 

Als Schulleiter ist es mir eine Freude, am letzten Schultag einige Worte an Sie zu richten, aus Anlass des Jahres 2000 werde ich – wie versprochen -  ein paar Gedanken zum Thema „Von Gutenberg zu Gates“ entwickeln. Doch bevor ich das tue, möchte ich zunächst unsere Gäste begrüßen. Herzlich willkommen heiße ich Frau Stellvertretende Bürgermeisterin Maria Seifert, Herrn Hans-Joachim Bösch als Vertreter der Schulpflegschaft, Herrn Pfarrer Nowoczin und Herrn Kaplan Steinrötter als Vertreter der Kirchen, Herrn Amtsgerichtsdirektor a.D. Rüdiger Winter, den Vorsitzenden des Fördervereins, und den Schülersprecher Tobias Petri. Ich freue mich ferner über die Anwesenheit der Vertreter der Presse, die unsere Arbeit stets mit kritischer Sympathie begleiten.

 

Wir haben nach alter Tradition auch wieder zwei ehemalige Schüler eingeladen: Vor 50 Jahren hat Herr OStD a. D. Dr. Schöpker hier sein Abitur gemacht, der Silberjubilar – also vom Abijahrgang 1975 - ist Herr Bernhard Söthe, dem der Umgang mit Büchern in der Schule so gut gefallen hat, dass er sie heute nicht nur massenweise liest, sondern sie auch massenweise in seiner Humboldt-Buchhandlung umsetzt.  Herzlich willkommen am Ratsgymnasium!

 

Mit besonderer Freude begrüße ich Sie und gratuliere Ihnen, liebe Eltern, denn wenn Sie Ihre Kinder nicht zur Welt gebracht, vor Kälte geschützt, mit gesunder mitteleuropäischer, indischer oder russischer Kost ernährt, mit Bildung gefüttert und mit unerbittlichen erzieherischen Maßnahmen geformt hätten (etwa: heute machst du dir kein Abendbrot, heute machst du dir Gedanken!)  - ja dann säßen diese Ihre Kinder nicht hier und bekämen nicht in ca. einer halben Stunde das entscheidende Zeugnis in die Hand gedrückt.

 

Nicht zuletzt begrüße ich Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Sie wieder einmal mit großem Engagement und - wenn man der Abizeitung glauben darf - ebenso großen Kuchentabletts einen Jahrgang erfolgreich zum Abitur geführt haben. Ganz herzlichen Dank Ihnen allen, besonders dem Oberstufenkoordinator, Herrn Studiendirektor Gerhard Schmidt, und – derselbe Name folgt noch einmal in englischer Sprache - Ihrer Jahrgangsstufenleiterin, Frau Oberstudienrätin Gudrun Bässe-Smith!

 

Doch nun zu meinem speziellen Thema: Von Gutenberg zu Gates! Warum Gutenberg? Weil vor 600 Jahren dieser Mann geboren wurde, Johannes Gutenberg, eigentlich Johann Gensfleisch, und weil ohne seine um 1445 in Mainz gemachte geniale Erfindung – nämlich den Druck mit beweglichen, gegossenen Lettern, zu Recht auch „Buchdruckerkunst“ genannt – unsere Welt anders aussähe und speziell das, was wir heute Bildung nennen, nicht denkbar wäre. Kein Kriegsherr, kein Religionsstifter, sondern ein kleiner Handwerker hob die Welt aus ihren rostigen Angeln. Seine Revolution führte zu einer Explosion des Wissens, das sich in Europa und auf der Erde  verbreitete und die Menschen aus geistiger Enge und geistlicher Bevormundung befreite. Das massenweise, schnell und billig hergestellte Buch, das nicht mehr Exemplar für Exemplar abgeschrieben werden musste, wurde Träger der Information, der Wissenschaft, der Aufklärung, der intellektuellen Auseinandersetzung über Landes- und Standesgrenzen hinweg. Die Literatur verließ die Zirkel der Eingeweihten und eroberte breiteste Leserschichten. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Gutenbergs Tat das größte Geschenk ist, das je ein Erdbewohner der ganzen Menschheit gemacht hat, ja vielleicht ist es – wie der französische Dichter Victor Hugo meinte - das größte Ereignis der Weltgeschichte. In den Auswirkungen vergleichbar mit dieser Erfindung sind nur wenige andere, die vorherigen der Sprache, der Schrift und des Rades, und die spätere des Computers. Dass allerdings durch den Siegeszug der Informationstechnologie das Buch dem Untergang geweiht sei, halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Ebenso wenig wie das Bild den Text getötet hat – das befürchtete man im Mittelalter – oder das Fernsehen das Kino, wird das Buch verschwinden. Es wird vielmehr als Leitmedium bestehen bleiben – dafür spricht schon die jährlich steigende Zahl der Neuerscheinungen - und von den sogenannten neuen Medien ergänzt werden. Internet und Buch sind ja keine unversöhnlichen Gegner. Im Gegenteil profitieren sie heftig voneinander. Bücher waren das erste Produkt, das über das Internet massenhaft Absatz fand. Es gibt Bücher, die als „E-Buch“ oder „Books on demand“ virtuell vertrieben, d.h. erst auf Abruf produziert werden. Klicken Sie die Adresse „gutenberg.aol.de“ an, so stoßen Sie auf das Projekt Gutenberg, das 300 Klassiker der Weltliteratur in deutscher Sprache zum kostenlosen Abruf bereit hält – das sind 150 000 Seiten in 35 000 Dateien. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Fachbücher, die sich mit Internet, Computer und audiovisuellen Medien beschäftigen. Umberto Eco hat Recht: die Hilfeprogramme auf dem Bildschirm werden von unverantwortlichen tautologischen Idioten geschrieben, deshalb braucht man die Handbücher, denn die stammen von „smart people“. Der Hypertext auf dem Bildschirm wiederum ist eine völlig neue Textform, die herkömmliche Lesegewohnheiten durchaus verändern kann: durch multidimensionale Vernetzung, durch die verweisenden „Links“,  durch das blitzschnelle, ja geradezu „links“-radikale Hin- und Herspringen zwischen den Informationen. So schreibt Umberto Eco in seinem Vortrag „From Internet to Gutenberg“ – und diesen Vortrag habe ich im Internet gefunden! -, der Computerbildschirm sei das ideale Buch, in dem man über die Welt in Form von Wörtern und Seiten lesen könne. Er fährt fort: „Ein gutes TV-Lehrprogramm – gar nicht zu sprechen von der CD-ROM – kann etwa die Genetik besser erklären als ein Buch.“ Aber trotz alledem, liebe Abiturienten und Abiturienten, Sie wissen es selbst: ohne Bücher wäre Ihr Leben ärmer. Einen Computerbildschirmtext kann man nicht am Strand im Liegestuhl lesen, nicht auf der Parkbank, im Bus oder unter der Bettdecke – Erlebnisse wie die Taschenlampenlektüre der ersten verbotenen Karl-May-Bücher bleiben unverzichtbar. Computer kann man auch nicht vor Wut in die Ecke pfeffern – jedenfalls können sich das nur wenige finanziell erlauben. Das Buch hat einfach sinnliche Qualitäten, die einem Apple abgehen, und habe er noch so erotische Rundungen. Lesen und lieben haben viel miteinander zu tun, die Wörter klingen ja schon ähnlich, der Satiriker Kurt Tucholsky brachte es auf den Punkt: „Entweder du liest eine Frau, oder du umarmst ein Buch. Beides zugleich geht nicht.“

Wenn Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, uns mit dem Reifezeugnis in der Hand verlassen, dann haben Sie am Ratsgymnasium eine Bildung genossen, zu der sowohl fachwissenschaftliche Kenntnisse als auch moralisch-ethische Wertvorstellungen gehören. Beides wurde Ihnen sowohl durch Bücher als auch durch andere Medien vermittelt. Aber ebenso wichtig war, dass Sie durch Lehrerinnen und Lehrer angeregt und angeleitet wurden, dass Sie mit anderen zusammen lernten, dass sich Ihr Wissen, Ihre Überzeugungen, auch Ihre Irrtümer und deren Widerrufe in der Gruppe entwickelten, in der Klasse, im Kurs und im Team (und Sie buchstabieren dieses Wort nicht mehr so: Toll Ein Anderer Macht’s!). Wenn Ihnen dabei der Computer die kognitive Sklavenarbeit der Informations- und Textverarbeitung abnahm, so konnte er Ihnen doch nicht beibringen, zu kommunizieren, zu argumentieren, kritisch zu lesen, kreativ und innovationsfähig zu sein, zu organisieren, solidarisch zu sein, das Lernen zu lernen. Das haben Sie von und mit Ihren Lehrerinnen und Lehrern, Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern gelernt. Und Sie haben gelernt, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Sie sind den Verführungen der verschiedensten Rattenfänger nicht mehr hilflos und unmündig ausgesetzt. Sie erkennen den Niveauunterschied zwischen dem Hamlet-Monolog „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“ und der rhetorischen Frage: „Wadde hadde dudde da?“ Sie kennen Shakespeare und wissen, dass er einige der tollsten Theaterstücke geschrieben hat, die je ein menschliches Gehirn auf diesem Planeten erfand. Treten Sie – und Sie erlauben, dass ich jetzt ein bisschen kämpferisch werde – der allgemeinen Analphabetisierung und Infantilisierung entgegen, der großen „Zlatkoalition“ aus Schwachsinn und Geschäftemacherei. Dass die utopische Horrorvision in George Orwells Roman „1984“, der unter dem Motto „BIG BROTHER IS WATCHING YOU“ eine eindringliche Warnung vor dem totalitären Überwachungsstaat ausspricht, nun im Titel einer voyeuristischen Fernsehshow wiederauftaucht – wobei noch der Klodeckel verscherbelt wird, auf dem eine der deutschen Sprache nur bedingt mächtige Moderatorin gesessen hat – das ist ebenso pervers wie ein hasserfüllter Virus, der unter der Maske „I LOVE YOU“ auftritt. (Auch diese drei Worte haben übrigens eine besondere Bedeutung in dem genannten Roman.) Dabei ist das  Fernsehen selbst kein „Nullmedium“, wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger sagte. Es ist nur eine überaus funktionale Form der Vermittlung, auch der HAMLET-Film von Kenneth Branagh lief im Fernsehen, zu nachtschlafender Zeit zwar, aber es gibt ja Videorecorder. Es geht um die richtige, verantwortungsbewusste Nutzung. Man kann es auch ironisch ausdrücken wie Loriot, der 1999 in einer wunderbaren Rede für neuimmatrikulierte Studenten an der Freien Universität Berlin sagte: „Vor allem sollte genügend Zeit zum Fernsehen bleiben. Die Universitäten neigen dazu, durch ein überreichliches Arbeitspensum das geregelte Fernsehen zu erschweren. Ihr aber solltet nicht nachlassen, vor allem die Werbung intensiv zu verfolgen, die ja leider alle paar Minuten durch unverständliche Spielfilme unterbrochen wird. Dann wisst ihr, was unser Leben so glücklich macht: nicht Wissen, nicht Bildung, nicht Kunst und Kultur, ... nein, nein...es ist der echte Kokosriegel mit Knusperkruste, die sanfte Farbspülung für den Kuschelpullover und der Mittelklassewagen für die ganze glückliche Familie mit Urlaubsgepäck und Platz für ein Nilpferd.“

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, vielleicht ist Bildung – wie Lord Halifax meinte – nur das, was übrig bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben. Auf jeden Fall ist sie – so schreibt Prof. Schwanitz in seinem Bestseller „Bildung. Alles, was man wissen muss“ – „ein Stil der Kommunikation, durch die Verständigung zwischen Menschen zum Genuss wird. Kurzum: Sie ist die Form, in der Geist, Fleisch und Kultur zur Person werden und sich im Spiegel der anderen reflektieren.“ Benutzen und verwerten Sie Ihre Bildung in diesem Sinne, denken Sie daran, dass die Welt eine Benutzeroberfläche ist, die der Schonung bedarf. Achten Sie darauf, dass der „Chat“ im „Global Village“ nicht zum unverbindlichen Dorftratsch wird. Artikel 14 des Grundgesetzes sagt, dass Eigentum verpflichtet. Ich finde, das sollte auch für geistiges Eigentum gelten.

 

Engagieren Sie sich weiterhin für die Gemeinschaft, wie Sie es am Ratsgymnasium in vielfältiger und das Schulleben bereichernder Weise getan haben, in der SV, im Sport, im Orchester, im Theaterkreis, in der Schülerzeitung, in der Internet-AG – wofür ich Ihnen herzlich danken möchte. Ich wünsche Ihnen allen Glück und Erfolg im beruflichen und privaten Leben. Denken und kommen Sie ab und zu ans Ratsgymnasium zurück, virtuell im Cyberspace oder – was noch schöner ist – in persona. Das erste Motto für Sie lautet natürlich: „Vorwärts – aufwärts“, das zweite aber: „Back to the roots, back to the Rats!“