Der „Alleszermalmer“


Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant

 

am 22. April 2024  
 
                                 

Er rührte den Senf für seine Mahlzeiten am liebsten selber an und gab, wie böse Zungen behaupten, gern überall seinen Senf dazu. Er war und ist der größte Philosoph der Welt seit Platon und Aristoteles, aber er hatte panische Angst vor Wanzen, die er durch absolute Verdunklung des Zimmers bekämpfen wollte. Er hat so gut wie nie seine Heimatstadt Königsberg verlassen und war doch weiter im Weltall als wir alle. Er sah die „Welt als Wirtshaus, Zuchthaus, Tollhaus oder Kloake“ und fand nichts empörender als „Ungerechtigkeit – alle anderen Übel die wir ausstehen sind nichts dagegen.“ Zeitgenossen nannten ihn den „Alleszermalmer“, den „großen Zerstörer im Reich der Gedanken“. Die Rede ist von Immanuel Kant. Er wurde 1724, also vor 300 Jahren, geboren und starb 1804, vor 220 Jahren, aber was bedeutet er für uns heute?

Um 1900 begann in einem deutschen Lesebuch ein Gedicht mit dem Reim: „Den Kategorischen Imperativus fand, das weiß ein jedes Kind, Immanuel Kant“. Heute weiß das nicht einmal mehr jeder Erwachsene. Immanuel Unbekannt! Dabei gehört dieser Mann zweifelsohne zu den größten Geistern aller Zeiten. Noch heute sind Legionen von Wissenschaftlern damit befasst, seine Gedanken zu interpretieren, weiterzugeben oder auch zu bekämpfen. Philosophie ist ohne Auseinandersetzung mit Kant undenkbar. Der Kant-Experte Professor Otfried Höffe von der Universität Tübingen weist darauf hin, dass Kants Gedanken weite Bereiche des wissenschaftlichen und politischen Lebens bestimmen. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, das Hauptwerk aus dem Jahre 1781, beinhalte ein philosophisches Programm, das Weltgeschichte geschrieben habe. „Der Mensch besitzt einen Wert, der nicht verrechnet werden darf, sondern, wie Kant sagt, über jeden Preis erhaben ist.“ Auch könne man auf die heutige Mathematiktheorie, Physiktheorie oder Religionsphilosophie eingehen und träfe überall Kantische Gedanken.
Dabei war das Leben dieses Gelehrten eher bescheiden und unauffällig, allerdings war der große Gelehrte, körperlich nur 1,59 m groß, von einer gewissen Kauzigkeit und Verschrobenheit, die bei manchen Lesern sogar dazu führt, dass sie die Werke auf ihre versteckte Komik abklopfen. Da findet man dann so witzige Sätze wie „Wenn die Araber gleichsam die Spanier des Orients sind, so sind die Perser die Franzosen von Asien“. Oder: „Der Mensch geht in eine Komödie, um zu lachen und besser zu transpirieren.“
Kant, geboren am 22. April 1724 in Königsberg, liebte seine Eltern, weil sie die Grundlagen seiner Moralphilosophie legten. Aber in der Schule, dem Collegium Fridericianum, fühlte er sich nicht sehr wohl: „Zwang, Mechanismus und ein Gängelwagen der Regeln“ waren an der Tagesordnung, montags bis samstags von 7 bis 16 Uhr. Keine Zeit zu Jobben nebenbei! Die Kinder sprachen nur Latein, weil – so die Verordnung - „das Deutsche ärgerlich und schädlich ist.“ In Latein und Griechisch war der kleine Immanuel gut, mit Rechnen und Religion ging’s nicht so erfreulich, im Schönschreiben versagte er. Obwohl er stets Primus war, durchlitt er seine „beschwerlichsten Jahre“ in der Schule. Eine Gebühr für Langzeitstudenten hätte er sicher nicht bezahlen müssen: Magisterexamen, Dissertation, Habilitation – das alles legte der 21 Jahre alte Student in bloß fünf Monaten ab, im Jahre 1755. Er wurde Privatdozent an der Universität Königsberg und las, weil er dringend Geld brauchte, über alles: nicht nur Metaphysik, Logik und Anthropologie, sondern auch Mathematik, Physik, Geografie, Naturrecht, Mechanik, Mineralogie und Pyrotechnik. Erst fünfzehn Jahre später wurde Kant endlich zum Professor berufen.
Sein tägliches Leben verlief pedantisch, pünktlich, altfränkisch, oft ein wenig wunderlich. Dass er jeden Morgen um fünf Uhr aufstand, habe ich schon erwähnt. Sein Diener Lampe musste ihn wecken und hatte den Befehl, den Herrn zum Aufstehen zu zwingen. Die Leute stellten die Uhr nach ihm, denn um Punkt sieben verließ er abends seine Gesprächsrunde. Um Punkt zehn Uhr zog er den Zipfel der Decke über die Schulter, rollte sich ein und erwartete den Schlaf. Die Umwelt musste genau geordnet sein. Ein woanders als gewöhnlich stehender Stuhl brachte ihn zur Verzweiflung. Gegen die Vergesslichkeit, ein typisches Leiden zerstreuter Professoren, hatte er eine seltsame Heilmethode: Als sein Diener Lampe entlassen werden musste, kam Kant nur schwer darüber hinweg, er wollte also nicht mehr daran denken. Um diesen Entschluss aber nicht zu vergessen, schrieb er auf einen Merkzettel: „Lampe muss vergessen werden!“ Man darf sich Kant allerdings nicht als einen verstaubten, langweiligen Kathedergelehrten vorstellen. Zeitgenossen rühmen seine geistreiche Art. Herder schreibt: Kant „in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. ... die gedankenreichste Rede floss von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang.“ Er blieb übrigens zeitlebens unverheiratet. „Da ich ein Frau brauchen konnte, konnt' ich keine ernähren“, meinte er lakonisch, „und da ich eine ernähren konnte, konnt' ich keine mehr brauchen“. 1796 hielt er seine letzte Vorlesung. Am 12. Februar 1804 starb Kant, fast 80-jährig. Die Freunde planten ein stilles Begräbnis, doch die Menschenschlange hinter seinem Sarg wurde kilometerlang. Über seinem Grab brachten Bürger später eine Tafel an, auf der das berühmte Zitat aus der „Kritik der praktischen Vernunft“ steht: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Was für ein ungewöhnlicher, eigenwilliger, schöner Satz! Allerdings nicht talkshow-kompatibel.
Ich denke, drei geistige Errungenschaften sind es vor allem, die Kant unsterblich machen und an die wir uns heute erinnern sollten. Sie können nämlich weiterhin Leuchttürme unseres Denkens und unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens sein. Die erste ist der kategorische Imperativ. Kant geht in seiner autonomen Pflicht-Ethik davon aus, dass es der Vernunft zwar unmöglich ist, Gegenstände a priori, d.h. ohne Erfahrung zu erkennen, sie kann aber den Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten bestimmen. Prinzipien, die uns zu rechtem Handeln verleiten sollen, können nicht aus Erfahrungen abgeleitet werden, weil die bei jedem Menschen unterschiedlich sind. Sie müssen vielmehr die Bedingungen des Handelns nennen und die enthält der kategorische Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Das entspricht in etwa der Volksweisheit: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ So klingt es banal, der kategorische Imperativ gehört jedoch zu den bedeutendsten philosophischen Gedanken Kants. Er ist logisch unanfechtbar und gilt ohne „Wenn und Aber“. Er ist die Grundlage der zivilisierten Gesellschaft.
Die zweite Errungenschaft ist Kants Definition und Beförderung der Aufklärung am Ausgang des 18. Jahrhunderts. „Aufklärung“ – so Kant in seiner berühmten Schrift von 1792 – „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Das ist ein Text von einer ungeheuren Sprengkraft, der noch heute begeistert. Er ist das Signal für den Anbruch der Gegenwart, der modernen Wissenschaft, der demokratischen Gesellschaft, Signal für das Ende des Absolutismus und des Dogmatismus, das Ende der Mächte, die den Menschen bevormunden wollen, seien sie weltlicher oder kirchlicher Provenienz, und mit seiner Kritik hat sich Kant sehr wohl deren Feindschaft zugezogen. Ein Blick in die Presse, ein Blick in die Fernsehnachrichten genügt, um uns klar zu machen, dass das riesige Projekt der Aufklärung noch lange nicht beendet ist, ja dass es auch immer wieder Rückschläge erleiden kann.
Drittens ist Kant der größte Friedensphilosoph. 1795 erklärt er in der Schrift „Zum Ewigen Frieden“, dass sich Kriege mit der Vernunft nicht vereinbaren lassen, und fordert deshalb die Gründung eines Völkerbundes, an dem alle Staaten beteiligt sein sollen. So lasse sich der Frieden am besten sichern. Die Verfassung der Staaten soll „republikanisch“ sein, wir würden heute sagen „demokratisch“. „So ist der ewige Friede“, schreibt Kant, der Ahnherr der UNO, „...keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die ... ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt.“ Ein Satz von verblüffender Aktualität im unserem neuen Jahrtausend, wie auch viele andere Sätze des Königsbergers, etwa die, in denen er den Angriffskrieg (!) „den Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten“ nennt oder den Fanatiker beschreibt: er sei „eigentlich ein Verrückter von einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk.“
Der führende Kantforscher in Kaliningrad – so heißt Königsberg heute – ist Professor Kalinnikow. Er sieht  das Ganze allerdings anders. Auf die Frage des ZEIT-Journalisten Michael Thumann, ob nicht die Vereinten Nationen eine Institution seien, „über die man zur Verständigung im Kantschen Sinne kommen könnte“, antwortete er entschieden „Nein“. Die Vereinten Nationen wendeten sich „unter dem Einfluss der USA von den Moralvorstellungen Kants und den Normen des Internationalen Rechts ab“. Die Stimme seines Herrn Putin.
Genial und überraschend gegenwärtig nannte der SPIEGEL die Kantische Verbindung zwischen Religionskritik und Friedenstheorie. Allerdings war Kant auch skeptisch gegenüber allen rosigen Utopien, er meinte: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Darauf einen kategorischen Aperitif!


 
Ein Gedicht von Robert Gernhardt

Eines Tags geschah es Kant,
dass er keine Worte fand.
Stundenlang hielt er den Mund,
und er schwieg - nicht ohne Grund.
Ihm fiel absolut nichts ein,
drum ließ er das Sprechen sein.
Erst als man zum Essen rief,
wurd' er wieder kreativ,
und er sprach die schönen Worte:
«Gibt es hinterher noch Torte?»